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    Neu im Heimkino: Der beste Film des Jahres ist ein traurig-tröstliches, (alb-)traumhaftes Meisterwerk
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Für FILMSTARTS-Autor Sidney Schering besteht kein Zweifel: Der beste Film, der 2024 bislang in Deutschland anlief, ist „All Of Us Strangers“. Jetzt erscheint der ebenso tröstlich-traumhafte wie albtraumhaft-kühle Gefühlsrausch im Heimkino.

    Das bisherige Kinojahr war nicht arm an Highlights: Obwohl bei FILMSTARTS die Höchstwertung selten gezückt wird, bescherten uns die vergangenen Monate mehrere Filme, die sich mit einer 5-Sterne-Kritik den Meisterwerk-Status verdienten. Neben „Dune: Part Two“ gelang dies zum Beispiel der Skurrilität „Poor Things“ und dem sinnlichen Tennis-Drama „Challengers“. Ein weiteres Meisterwerk, das dieses Jahr in die hiesigen Kinos fand, ist „All Of Us Strangers“ – für mich ist es sogar unbestritten der beste Film des Jahres.

    Kein anderer Film ließ mich derart mitfühlen. Sowohl, was die Intensität der Gefühle angeht, als auch die Vielzahl an Emotionen, die er hervorruft. Ab dem 28. Juni 2024 ist „All Of Us Strangers“ endlich auch auf DVD und Blu-ray erhältlich:

    Zudem ist „All Of Us Strangers“ bereits als VOD via Prime Video* und im Abo von Disney+* abrufbar. Jedoch enthält die Blu-ray zwei Featurettes als Begleitmaterial, die ihr weder auf der DVD noch im Streaming zu sehen bekommt.

    "All Of Us Strangers": Ein Sog aus Liebe, Angst, Trost und Kummer

    Fernsehautor Adam (Andrew Scott) ist von Melancholie durchzogen. Wenn er nicht gedankenverloren Löcher in die Luft starrt, verliert er sich in alten TV-Auftritten der Band Frankie Goes To Hollywood. Dieses Trübsal wird eines Nachts durch eine Begegnung mit Harry (Paul Mescal) unterbrochen. Harry bezieht eine Wohnung im selben, nahezu leergefegten Wohnkomplex und ist ebenfalls einsam – doch anders als Adam sucht er Nähe. Zunächst blockt Adam ab, letztlich lässt er sich aber auf Harry ein. Dem hat der Autor bald darauf viel zu erzählen, denn Adams Eltern (Claire Foy und Jamie Bell) kehren in sein Leben zurück. Dabei sind sie vor Jahrzehnten gestorben...

    Autorenfilmer Andrew Haigh kreiert mit „All Of Us Strangers“ eine kühle, beinahe assoziativ dahingleitende, nachdenklich stimmende Auseinandersetzung mit Liebe: Liebe zwischen Eltern und ihrem Nachwuchs, romantisch-sexuelle Liebe, Nächstenliebe und die Liebe zu sich selbst. Es geht ebenso um die tröstende Wirkung von Zuneigung wie um die Folgen mangelnder Hingabe:

    Sei es das schlechte Gewissen, liebgewonnenen Menschen nicht häufig genug mitgeteilt zu haben, was sie einem bedeuten, oder dieses beklemmende Gefühl, nicht zu wissen, ob das Gegenüber gerade wertschätzend lächelt oder sich ein unaufrichtiges Lächeln abmüht. So aufwühlend „All Of Us Strangers“ ist, wenn Haigh derartige Überlegungen und Empfindungen mit wenigen Worten und eindringlichen Bildern einfängt, so wohlig und heilsam gerät seine Erzählung an anderen Stellen.

    Etwa in den Sequenzen, in denen Adam erneute Chancen erhält, harmonisch mit seinen Eltern am Esstisch zu sitzen. Oder wenn Harry und Adam allen Sorgen zum Trotz, die sich wie Furchen in ihren Gesichtern abzeichnen, einander auffangen und sich innig lieben.

    Ein Gefühlsrausch, der unter die Haut geht

    Das Auf und Ab zwischen schmerzlichen und kathartischen Augenblicken treibt „Fleabag“-Star Andrew Scott zu einer neuen Karrierebestleistung: Obwohl es Adams Beruf ist, Formulierungen zu finden, ringt er wiederholt um Worte. Zu unerklärlich sind die Ereignisse, zu immens die Fülle an angestauten Gefühlen, zu komplex die Gedanken, die ihm durch den Kopf schießen. Scott vermittelt diese Zerrissenheit und Überforderung meisterhaft.

    Allein schon die Sequenz, in der ein fassungsloser Adam zu seinen Eltern eingeladen wird, hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Adam muss sich die Silben förmlich abringen, und doch drückt Scott widersprüchliche, starke Emotionen aus – durch unkontrolliert-freudig zuckende Mundwinkel, feuchte Augen und einen stockenden Atem. Unterstützt wird der Hauptdarsteller durch die ebenfalls glänzende, restliche Besetzung:

    Wie Mescal als Harry Erschöpfung, performative Lässigkeit und authentische, situativ bedingte Selbstsicherheit verschmelzen lässt, wirkt beeindruckend mühelos. Und wie es Foy sowie Bell als Adams Eltern vermögen, mit einem unbedachten Satz gleichermaßen Mitleid, Kummer, Abscheu und Frust hervorzurufen, sowie den Versuch, ihr Denken schönzureden, werde ich wohl nie vergessen können – oder wollen.

    Intensiviert wird dies durch eine geisterhafte, mit Reflexionen spielende Bildsprache: Haigh und sein Kameramann Jamie Ramsay verwandeln London in eine Echokammer für Adams Ängste und Hoffnungen. Schwarztöne, Nachtblau und rare Tupfer warmer Farben wabern darin hypnotisierend, betörend und bedrückend. Und wiederholte Unschärfen verursachen ebenso verträumte wie albtraumhafte Verzerrungen – stets abhängig davon, ob die abgebildeten Taten und Gespräche über Selbstakzeptanz, Todesängste und Versöhnung desorientierend, herzzerreißend oder tröstend verlaufen.

    Und wenn euch mein bisheriger Lieblingsfilm des Jahres ebenfalls gefällt, wird euch womöglich interessieren, dass Haigh für die Gänsehaut-Bildsprache von „All Of Us Strangers“ eine ungewöhnliche Inspirationsquelle hatte. Mehr dazu erfahrt ihr im folgenden Artikel:

    Echt schaurig: Dieser fast in Vergessenheit geratene Disney-Horrorfilm (!) erlebt gerade einen zweiten Frühling

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