Mittlerweile kennen Genrefans Udo Kier aus zumeist dick aufgetragenen Nebenrollen in Horror-Filmen, Thrillern und rabenschwarzen Komödien. Doch es gab Zeiten, in denen er im androgynen Look die Hauptrolle in Filmen übernahm, die auf einer hauchdünnen Grenze zwischen Kunstexperiment und rotziger Exploitation liegen.
Eines der Paradebeispiele ist „Andy Warhol's Dracula“, ein Horrorfilm, der genauso gut ins verkopfte Arthouse passt wie ins ranzige Bahnhofs-Schmuddelkino. Kein Wunder, dass sich in vielen Ländern der Jugendschutz mit diesem tonalen Drahtseilakt schwertat – auch in Deutschland. Mittlerweile ist der Ex-Index-Film aber rehabilitiert. Nun erhielt er zudem ein Upgrade: Diese Woche feierte „Andy Warhol's Dracula“ 4K-Debüt im Heimkino!
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Beide Versionen sind inhaltlich identisch und enthalten neben einer 4K-Disc des Films zwei Blu-rays mit viel Bonusmaterial sowie ein Booklet über die Hintergründe des Tabus brechenden Horrorexperiments von 1974.
"Andy Warhol's Dracula": Dracula, der abgewrackte Junkie
Graf Dracula (Udo Kier) dürstet es nicht einfach nach Blut – sondern nach dem frischen Blut einer unverdorbenen Frau. Ärgerlich nur, dass es in seiner Heimat keine einzige Jungfrau mehr gibt! Also setzt der Obervampir alles auf eine Karte: Die Landkarte gen Italien. Denn Draculas Diener Anton (Arno Juerging) mutmaßt, dass es in einer erzkatholischen Nation Jungfrauen im Überfluss geben muss.
Im Mittelmeerstiefel angelangt, macht es sich Dracula bei Il Marchese di Fiore (Vittorio De Sica) bequem, der einem verarmten Adelsgeschlecht angehört und dessen weitläufige Villa allmählich zerfällt. Zwei der vier Töchter di Fiores hegen intensiven sexuellen Kontakt zu einem marxistischen Stallburschen (Joe Dallesandro), der das Anwesen in Schuss zu halten versucht. Doch die älteste und die jüngste Tochter des Großgrundbesitzers sind unberührt...
Im Original ist „Andy Warhol's Dracula“ inhaltlich akkurat „Blood For Dracula“ betitelt. Der deutsche Filmtitel ist dagegen eine Mogelpackung: Regie und Skript stammen von Paul Morrissey, dem Warhol sechs Jahre zuvor das Filmzepter in seinem Atelier The Factory überließ. Auf die Frage, was er zu „Andy Warhol's Dracula“ beisteuerte, antwortete Warhol der New York Times 1974: „Ich habe die Partys besucht!“
Warhol schob allerdings hinterher, dass man bei The Factory stets Ideen zu fremden Projekten beitragen würde. Ob Warhol also mit der Filmcrew bloß gefeiert hat, oder sehr wohl kreativen Input lieferte, wissen wohl nur die Beteiligten.
Weniger mysteriös als die Entstehung des Films, der allein produziert wurde, weil ein anderes Projekt Morrisseys schneller abgedreht wurde als geplant, ist seine Veröffentlichungsgeschichte: Unter anderem war er in Großbritannien bis 2006 bloß um mehrere Minuten gekürzt erhältlich. In den USA wurde nach einem wenig beachteten, regulären Start eine zwölf Minuten kürzere Fassung veröffentlicht. Und in Deutschland landete selbst eine entschärfte Version für 32 Jahre auf dem Index.
Einer der Spukhaus-Klassiker schlechthin: Ikonische Fantasy-Horror-Saga kehrt ungekürzt ins Heimkino zurückMittlerweile ist „Andy Warhol's Dracula“ in Deutschland zwar ungekürzt ab 18 Jahren freigegeben, allerdings bleibt er schwerer Tobak: Kiers Dracula wird als tragischer Antiheld dargestellt, dessen Blutgier eine Metapher auf Drogensucht darstellt – inklusive Zitter- und Kotzanfälle. Gleichwohl ist Kier, der für die Rolle zehn Kilo abgenommen hat, als Vampir sexuell extrem aufgeladen.
Im Vampir-Kino wahrlich kein Novum, jedoch ist dieser Dracula im Umgang mit seiner Libido eher erbärmlich als verführerisch oder animalisch. Das macht auch die Biss- respektive Sexszenen trotz ihres Softcore-Erotik-Looks äußerst unbequem: Von jämmerlicher Selbstbefriedigung bis hin zu Opfern, die plötzlich lustvoll mitstöhnen, weil es ihnen ja doch gefällt, wozu sie gedrängt werden.
Eine Vergewaltigungsszene, mit der eine Frau für Dracula verdorben werden soll, macht dann den wahren Schurken zum völlig abscheulichen Antagonisten – wird durch die Inszenierung allerdings auch weiten Teilen des Publikums vor den Kopf stoßen. Und wer das durchhält, muss noch immer die tonalen Wechsel von metaphorisch aufgeladener Avantgarde zu bitter-zynisch-exzentrischem Humor hin zu grafischem Splatter verkraften. Das hat bei Morrissey definitiv Methode, ist aber auch nur mit speziellen Sehgewohnheiten vereinbar.
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