Stellt euch vor, ihr begegnet Menschen, die euch sowas sagen würden: „Niemand wird dich vermissen!“, „Du bist schuld an Mamas Tod!“ oder „Wir werden dich töten“. Würdet ihr euch wehren und verbal verteidigen? Und was wäre, wenn ihr euch gar nicht dagegen wehren könnt, weil die Stimmen nicht physisch lokalisierbar sind – sie sind in eurem Kopf und werden mit jedem Wehrversuch nur lauter und aggressiver. Willkommen in der Welt von Lukas. Willkommen bei „Das weiße Rauschen“.
Psychische Krankheit im Film – ein heikles Terrain
Lukas, gespielt von Daniel Brühl, ist 19 Jahre alt und zieht vom Dorf zu seiner Schwester Kati (Anabelle Lachatte) und ihrem Mitbewohner Jochen (Patrick Joswig) in ihre WG in Köln, um dort zu studieren. Was noch als relativ unbedarfter, geradezu goldiger Jugendfilm – mit Dates, Partys und Drogen – beginnt, entwickelt sich relativ bald zu einem filmischen Albtraum, der in seiner Radikalität beispiellos ist.
Bei seinem aktuell auf Netflix zum Streamen verfügbaren Hochschulabschlussfilm „Das weiße Rauschen“ ist mangelnde Ambition der geringste Vorwurf, den man Regisseur Hans Weingartner machen könnte. Nicht weniger als die stigmatisierte psychische Krankheit Schizophrenie versucht Weingartner auf die Leinwand zu bringen. Ein Unterfangen, das einem Drahtseilakt gleichkommt, ist die Darstellung von psychischen Erkrankungen doch ein regelrechtes Minenfeld aus Fehltritten.
Wie schafft man es nämlich, die Krankheit darzustellen, ohne die erkrankte Figur mit einem voyeuristischen Blick auszustellen, der Lächerlichkeit preiszugeben oder reine Effekthascherei zu betreiben? Und noch viel wichtiger: Wie vermeidet man die Bevormundung der Figuren durch die Evokation von überpathetischem Mitleid?
Psychische Krankheit ist nicht konsumierbar
Ab der ersten Sekunde wird spürbar, wie sehr sich Weingartner mit der Thematik befasst hat: Die krisselige Videokameraoptik, das natürliche Licht, die Handkamera – all das schreit nach dem berühmten Dogma 95-Manifest aus Dänemark. Eine Ästhetik, die nicht angenehm sein will, ganz im Gegenteil. Es soll hier konfrontiert werden, mit einer Bildsprache, die too close for comfort ist. Worin besteht aber die Konfrontation?
Aus der psychischen Erkrankung in ihrer rohesten Form. Es gibt wohl keinen Film, der bei aller Feinfühligkeit für die brisante Thematik derart schonungslos mit seiner Hauptfigur und uns als Publikum umgeht. Wo heute im Netz überall zum offenen Diskurs über psychische Probleme aufgerufen wird und Prominente in regelmäßigen Abständen ihre emotionalen Tiefpunkte mit der Öffentlichkeit teilen, könnte man das Gefühl bekommen, dass das Problem der mentalen Gesundheit doch ziemlich gut unter Kontrolle ist.
Womit man sich in diesem Bereich aber selten bis gar nicht auseinandersetzen will – besonders auf Social-Media, wo der wöchentliche Therapie-Besuch zur großen Selbstentdeckung und emotionalen Reinigung pervertiert wird – ist die Unverträglichkeit und Unzugänglichkeit psychischer Erkrankungen. So gut man es in manchen Fällen auch meint, beweist uns Weingartner, dass es mit ein paar netten Worten und Unterstützungsbekundungen noch lange nicht getan ist.
Auch das Umfeld leidet
Denn „Das weiße Rauschen“ ist deswegen so brillant und so unbequem, weil er versucht, alle Perspektiven mit aufzunehmen und sie unversöhnt nebeneinanderstehen stehen zu lassen. Zunächst darum bemüht uns das Leiden von Lukas unter dem permanenten Stimmenbombardement, die ihn fürchterlich obszön beleidigen und in den paranoiden Wahnsinn treiben, empathisch spürbar zu machen, wechselt auf einmal die Perspektive und wir sind Beobachter von Lukas‘ Interaktionen mit seiner Schwester Kathi und ihrem Mitbewohner Jochen.
Streaming-Tipp: In dieser viel zu unbekannten Action-Reihe trifft "The Raid" auf "Dirty Harry" & Bud SpencerVon jetzt auf gleich wird uns ganz anders. Waren wir gerade noch bereit, Lukas unser vollstes Mitgefühl auszusprechen, manövriert uns Weingartner in eine emotionale Sackgasse – Lukas wird nämlich handgreiflich gegenüber beiden, wirkt völlig realitätsfern, ist aggressiv, dauernd unter Strom, wirft mit Sachen um sich, beleidigt seine Schwester und Jochen, weil er der festen Überzeugung ist, die beiden würden über ihn lästern. Er macht uns schlichtweg eine ungeheure Angst, was vor allem der wirklich elektrisierenden Darstellung von Daniel Brühl zu verdanken ist, der hier schauspielerisch Sachen macht, die jegliche Wertungsskala sprengen.
Die Mär des "toxischen" Menschen
Wir haben immer noch Verständnis dafür, dass er krank ist, aber genauso sehen wir auch, wie sein Umfeld, besonders seine um Unterstützung bemühte große Schwester, daran zerbricht. Denn das gern genutzte Wort „toxisch“, das immer den Aufruf zur Distanzierung von gewissen, als unangenehm und manipulativ empfundenen Personen impliziert, ist wohl genau das Wort, was zu einer psychischen Krankheit dazu gehört.
Weingartner stellt diesen inhärenten Narzissmus, den Egoismus, die Selbstisolation, die fehlende Empathie für andere, das Gefühl, alles würde sich nur um einen selbst drehen und alle anderen würden einen einfach nicht verstehen, ohne besondere Gefühligkeit aus. Und gerade damit – in dieser nichts beschönigenden Inklusion der destruktiven Elemente seiner Kondition – nimmt er seinen Protagonisten erst wirklich ernst.
Produktive Zumutung
Aufklärung heißt, sich damit auseinanderzusetzen, was uns fremd ist und was uns zum Reflektieren zwingt. Weingartner verschreibt sich diesem Anspruch völlig, was allen voran der wirklich genialen Kameraführung zuzuschreiben ist, die nach Aussage Weingartners nur Positionen einnimmt, die ein*e Beobachter*in der Szene einnehmen könnte und uns so zu Teilnehmer*innen an Szenen macht, bei denen wir nicht dabei sein wollen. Tragischerweise ist das wohl die Form, die uns am nächsten an das Gefühl der Angehörigen heranbringt, der Krankheit und ihrer Rücksichtslosigkeit in Form eines geliebten Menschen ausgeliefert zu sein.
Was bis hierhin wie eine kaum zu ertragende Filmerfahrung klingt, ist aber letztlich, besonders gegen Ende hin, – vor allem durch den besten End-Credit Song der Filmgeschichte – ein wunderschöner Film, der gerade deswegen bewegt, weil er uns als Zuschauer*in nicht das zeigt, was wir sehen wollen, sondern was wir sehen müssen.
Ohne Zweifel ist es bisweilen auch eine Zumutung, sich dem auszuliefern, doch vielleicht liegt gerade darin der Kern einer bereichernden Filmerfahrung – wir müssen uns von Zeit zu Zeit quälen, um wirklich etwas mitzunehmen. Denn wenn es zu einfach wäre, würden wir es schnell wieder vergessen, oder?
Heute Abend streamen: Ein hochspannendes Südstaaten-Abenteuer mit Matthew McConaughey in Topform – viel zu unbekannt!