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    All The Beauty And The Bloodshed
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    All The Beauty And The Bloodshed

    Der Gewinner des Goldenen Löwen 2022

    Von Christoph Petersen

    Manchmal gilt für Dokumentarfilmer*innen dasselbe wie für Mittelstürmer*innen: Hauptsache man ist zur rechten Zeit am rechten Ort – und wenn man dann nur noch die Kamera draufhalten oder den Fuß hinhalten muss, um einen Treffer zu landen, dann ist der Job trotzdem zur vollsten Zufriedenheit erledigt! So erging es der Dokumentarfilmerin Laura Poitras bei „Citizenfour“, für den sie 2015 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde: Die US-Amerikanerin erhielt die einmalige Chance, von Anfang an bei den streng geheimen Treffen zwischen dem Whistleblower Edward Snowden und dem Journalisten Glenn Greenwald in einem Hotelzimmer in Hongkong dabei zu sein – und sie verwandelte die Steilvorlage sicher zu einem der bedeutendsten Dokumentarfilme der vergangenen Jahrzehnte!

    Nach dem hochverdienten Oscar für „Citizenfour“ gab es für „All The Money And The Bloodshed“ nun den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig – womit sich Poitras immerhin gegen solche glanzvollen Namen wie Darren Aronofsky („The Whale“), Martin McDonagh („The Banshees Of Inisherin“), Andrew Dominik („Blond“) oder Alejandro G. Iñárritu („Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“) durchsetzen konnte. Nun kommt es zwar überdurchschnittlich oft vor, dass eine einsame Doku in einem Wettbewerb über die Spielfilmkonkurrenz triumphiert – man denke zum Beispiel an „Fahrenheit 9/11“ in Cannes, „Seefeuer“ in Berlin oder „Das andere Rom“ ebenfalls in Venedig …

    … aber Poitras und ihr Film haben die Auszeichnung auch über diesen Wettbewerbsvorteil hinaus ganz einfach verdient! Sicherlich ist die Opioid-Krise in den USA erneut ein hochbrisantes Thema, das niemanden kalt lässt und bei dem sich die Regisseurin von Anfang an einer extrem breiten Unterstützung sicher sein konnte. Aber anders als bei „Citizenfour“, wo das „Das“ eigentlich schon mehr als die halbe Miete war, überzeugt bei „All The Money And The Bloodshed“ vor allem das „Wie“ – denn Poitras Ansatz, sich die milliardenschwere Sackler-Familie mittels der Geschichte der Künstlerin und Aktivistin Nan Goldin vorzuknöpfen, erweist sich als ebenso vielschichtig wie kraftvoll.

    Nan Goldin begann ihre inzwischen längst weltumspannende Karriere bereits Anfang der 1970er Jahre.

    Die Werke der renommierten Foto-Künstlerin Nan Goldin hängen in fast allen bedeutenden Museen und Galerien der Welt. Zugleich ist in vielen dieser kulturellen Tempel vom MOMA in New York bis zur National Gallery in London auch der Name Sackler zu finden – also der Name jenes Familienverbundes, der sein Milliardenvermögen in den vergangenen Jahrzehnten vor allem mit süchtig machenden Schmerzmitteln wie OxyContin gesteigert hat, während er sich mit der Weitergabe des Blutgeldes an kulturelle Einrichtungen wieder ein Stück weit weißzuwaschen versucht. Seit 2017 kämpft die immer schon auch aktivistisch tätige Goldin nun mit der von ihr selbst gegründeten Interessenorganisation P.A.I.N. gegen die Machenschaften des Sackler-Clans …

    … und zielt dabei vor allem auf die Entfernung des Familiennamens aus dem öffentlichen Raum ab. Immer wieder gibt es aufmerksamkeitsstarke Aktionen wie die im New Yorker MOMA, wo die P.A.I.N.-Mitglieder nicht nur den ikonischen Wendelgang nutzen, um das ganze Museum mit Flugblättern zu fluten, sondern sich auch in einem Meer aus leeren Pillendosen totstellen. Aber woher kommt diese Motivation und der Kampfgeist? Die Antwort darauf findet sich nicht nur in Goldings eigener überwundener Schmerzmittelabhängigkeit, sondern ganz allgemein in ihrer Familien-, Künstlerinnen- und Lebens-Geschichte, die „All The Beauty And The Bloodshed“ deshalb auch konsequent miterzählt.

    Am Anfang steht das Trauma…

    Laura Poitras erzählt uns all die Dinge, die wir wissen müssen, um uns das Puzzle „Nan Goldin“ selbst zusammenzusetzen – und zwar ohne uns die „Lösung“ dick aufs Brot zu schmieren. Ziemlich klar auf der Hand liegt aber die Parallele zwischen ihrer künstlerischen und ihrer aktivistischen Arbeit – denn beide sind tiefen Traumata entsprungen: Ihre bekannteste Fotoarbeit, die Slideshow „The Ballad Of Sexual Dependency“, ist etwa aus dem tiefen Konflikt mit ihren Spießer-Eltern hervorgegangen (ihre ältere Schwester beging Selbstmord, nachdem sie wegen ihrer „Rebellenhaftigkeit“ wiederholt in Psychiatrien abgeschoben wurde, während Nan „nur“ in Pflegefamilien landete).

    Ihre aktivistischen Arbeiten entstanden ebenfalls aus einem Schmerz heraus – aus dem Schmerz, dabei zusehen zu müssen, wie der AIDS-Virus in den Achtzigern ihre Freunde dahinraffte, und dem am eigenen Leib gespürten Schmerz, vom als ach so harmlos verkauften OxyContin abhängig zu werden (was zu mittlerweile ca. einer halben Million Toten und damit zu einer regelrechten Sucht-Pandemie in den USA geführt hat). Gerade weil „All The Beauty And The Bloodshed“ nicht streng chronologisch erzählt ist, sondern immer wieder zwischen Goldings Lebensgeschichte und ihrem aktuellen Kampf hin und her springt, entsteht so ein erstaunlich schlüssiges und vielschichtiges, aber dabei auch ungemein kraftvolles Porträt.

    Man spürt schnell, dass mit dieser Nan Golding nicht zu spaßen ist. Schmerz und Traumata sind ein mächtiger Antrieb. Trotzdem gibt es da gerade zu Beginn dennoch einen klaren David-gegen-Goliath-Vibe, wenn die P.A.I.N.-Mitglieder eine Aktion nach der andern starten, während die grauen Sackler-Eminenzen mit ihren Milliarden auf dem Konto und ihrem Familiennamen auf den Museumsschildern im Hintergrund bleiben. Aber die Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen hat mit Sicherheit auch damit zu tun, dass die Juror*innen um Julianne Moore nicht nur den Film, sondern auch die Protagonistin belohnen wollten – und ohne da jetzt zu sehr zu spoilern: Man kommt – gerade angesichts der grimmigen Thematik – doch mit einem erstaunlich erhabenen Gefühl aus dem Kino!

    Fazit: Hier befeuern sich eine schmerzvoll-traumatische Familiengeschichte, eine inspirierende Künstlerin-Biographie und ein aufrüttelndes Aktivismus-Porträt gegenseitig! Es mag sich manchmal ein wenig so anfühlen, als würde man sich zwei bis drei Filme parallel anschauen – aber diese befruchten und kommentieren sich gegenseitig derart pointiert, dass „All The Beauty And The Bloodshed“ so am Ende nur noch kraftvoller gerät!

    Wir haben „All The Beauty And The Bloodshed“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er seine Weltpremiere gefeiert und schließlich auch den Goldenen Löwen für den Besten Film des Wettbewerbs gewonnen hat.

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