Das Ringen mit dem Glauben und die verzweifelte Hoffnung auf Erlösung prägen das Schaffen der katholischen Regielegende Martin Scorsese wie kaum ein anderes Thema. In seinem ersten Gangsterdrama „Hexenkessel“ von 1973 verarbeitete der italoamerikanische Filmemacher seine Jugendzeit als Jesuitenschüler, in „Die letzte Versuchung Christi“ (1988) brach er auf Grundlage des gleichnamigen Romans von Nikos Kazantzakis mit dem klassischen Bild Jesu, in „Kap der Angst“ (1991) erhob er einen Mörder zur gottgleichen Naturgewalt, in „Kundun“ (1997) widmete er sich dem bewegten Leben und Wirken von Tendzin Gyatsho, dem 14. Dalai Lama Tibets – und auch in allen anderen Filmen haben die Glaubensfragen, die Scorsese so sehr umtreiben, mehr oder weniger deutliche Spuren hinterlassen. In seinem neuesten Werk treten sie nun wieder einmal ganz in den Vordergrund: Schon 1990 erwarb der Regisseur die Rechte an Shūsaku Endōs Roman „Chinmoku“ (deutsch: „Schweigen“), der bereits 1971 von Masahiro Shinoda verfilmt worden war. Im Gegensatz zu dessen zweistündiger Adaption walzt Scorsese in seiner Neu-Interpretation die Suche der Jesuiten Sebastião Rodrigues und Francisco Garupe nach ihrem in Japan verschollenen Mentor Cristóvão Ferreira zur fast dreistündigen Odyssee aus. „Silence“ ist weise und behutsam erzählt, ungewohnt zurückhaltend inszeniert und überlang - eher eine Reflexion über Religiösität, Standhaftigkeit und Erlösung als ein echtes Drama.
Im Jahr 1638 reist der junge portugiesische Jesuit Sebastião Rodrigues (Andrew Garfield) gemeinsam mit Bruder Francisco Garupe (Adam Driver) nach Japan, um dem Gerücht nachzugehen, ihr alter Lehrmeister Pater Cristóvão Ferreira (Liam Neeson) sei vom Glauben abgefallen. Zugleich wollen sie mit Hilfe des Übersetzers Kichijiro (Tadanobu Asano) der christlichen Bevölkerung Japans, die von der Regierung nach einem Aufstand brutal verfolgt wird, in geheimer Mission Beistand leisten. Die Geistlichen aus Europa werden Zeugen, wie die Obrigkeiten im Land ihr Reich von allen westlichen Einflüssen zu säubern versuchen. Die Kakure Kirishitan („verborgenen Christen“) vor Ort werden in einem bizarren Ritual gezwungen, das Abbild Jesu mit Füßen zu treten – nur mit dieser symbolischen Entsagung können sie ihr Leben retten. Die unmenschlichen Demütigungen und Ermordungen ihrer Glaubensbrüdern und -schwestern lassen Sebastião und Francisco nicht nur an ihrer Aufgabe zweifeln, sondern zunehmend auch an Gott.
Stille. Der Titel ist Programm. Und so beginnt „Silence“ mit Minuten der Stille, bevor Pater Ferreira von den Gräueltaten der Japaner an den Christen berichtet. Wenn zu sehen und zu hören ist, wie bis aufs Fleisch entblößte Menschen mit kochend heißem Wasser berieselt oder ans Kreuz gebunden werden, um an den gefluteten Stränden Japans jämmerlich zu ersaufen, wünscht man sich diese Stille bald zurück. Aus Sicht der japanischen Autoritäten machen sich Missionare wie Ferreira, die durchs Land reisen und die christliche Botschaft verkünden, der Verblendung des Volkes und der Vergiftung der einheimischen Religion und Kultur schuldig. Scorsese ergreift in diesem Konflikt nicht etwa einseitig Partei, sondern veranschaulicht den schier unlösbaren Gegensatz zwischen den Kulturen auf sachliche Weise, ohne die Misshandlungen zu beschönigen. In einer der wenigen wortreichen Szenen bringen der Regisseur und sein Co-Drehbuchautor Jay Cocks („Zeit der Unschuld“) das Dilemma auf den Punkt: Während Gouverneur Inoue Masashige (Issey Ogata) den christlichen Glauben als gefährliche und unfruchtbare Infiltration der japanischen Kultur erachtet, sieht Sebastião sich durch die Gebete seiner japanischen Glaubensbrüder in seinen tiefsten Überzeugungen und in seinem Missionsgedanken bestätigt.
Eine klassische Dramaturgie mit einem klar definierten Spannungsbogen gibt es in „Silence“ trotz der an einen Krimi erinnernden Ausgangssituation mit der Suche nach einer verschollenen Person nicht – das hat der Film mit Scorseses Spielfilm-Vorgänger „The Wolf Of Wall Street“ gemeinsam. Aber das ist auch fast schon die einzige Ähnlichkeit: Während bei seiner scharfzüngigen Abrechnung mit der Welt der Börsenmakler visueller wie musikalischer Exzess vorherrschte (der die stolze Laufzeit erstaunlich kurz werden ließ), dominieren in „Silence“ Zurückhaltung, Disziplin und Ruhe. Hier werden die Sehgewohnheiten nicht durch rasante Montagen und ständige Bewegung auf die Probe gestellt, sondern durch das geduldige, manchmal auch gnadenlose Verweilen auf dem Augenblick – sei es bei unerträglich anzusehender Folter oder beim Blick auf die raue Schönheit der japanischen Wildnis: Für seine eindrucksvoll klaren Bilder in meist starren Einstellungen erhielt Kameramann Rodrigo Prieto („Brokeback Mountain“) eine Oscar-Nominierung. Zu dieser inszenatorischen Strenge passt auch, dass Scorsese ganz anders als sonst fast vollständig ohne Filmmusik auskommt. Der Zuschauer wird eingeladen, sich in den Film gleichsam zu versenken und die bewusst langsame Erzählweise auf sich einwirken zu lassen – die Ideale des Protagonisten finden hier in gewisser Weise formalen Ausdruck, aber seine Gefühlswelt wird dabei nur bedingt lebendig.
Während Liam Neeson („Sieben Minuten nach Mitternacht“) als Pater Ferreira erst im späteren Teil des Films für eine überraschende Wendung sorgt und Adam Driver („Paterson“) als besorgniserregend ausgehungerter Francisco (ganze 25 Kilo soll Driver für die Rolle abgenommen haben) über weite Strecken der Handlung abwesend ist, steht Andrew Garfields Sebastião klar im Zentrum. Scorsese nimmt sich viel Zeit für die Einführung seines Protagonisten, der mit seinen sanften, fast schon kindlichen Zügen nicht ganz zufällig einem Messias gleicht: Wenn der von seinen Reisen erschöpfte und an den Rand des Wahnsinns getriebene Sebastião in einer wundersamen Szene auf die Wasseroberfläche eines Flusses blickt, erkennt er in seinem Spiegelbild das Antlitz Jesu. Ähnlich oscarreif wie in Mel Gibsons Kriegsdrama „Hacksaw Ridge“ spielt Andrew Garfield auch in „Silence“ einen einfühlsamen und stolzen jungen Mann, der unerschütterlich an seinen Überzeugungen festhält. Besonders qualvoll und mitreißend sind dabei jene Szenen, in denen seine Willenskraft und sein Glaube durch Gewalt auf die Probe gestellt werden. Und am Ende gönnt Scorsese seinem Protagonisten, sich selbst und dem Publikum erlösende Stille.
Fazit: Martin Scorseses reflexives Drei-Stunden-Drama über Glaubensfragen und Standhaftigkeit gerät zwischendurch zur Geduldsprobe – doch zugleich steckt es voller Weisheit, Verständnis und Menschlichkeit.