Netflix macht mal wieder großes Kino
Von Christoph PetersenNetflix bleibt der Ort, zu dem große Filmemacher mit Projekten gehen, die sie anderweitig nicht oder nur sehr schwer finanziert bekommen würden. Die besten Beispiele dafür sind Martin Scorseses „The Irishman“, David Finchers „Mank“ – und natürlich „Roma“ von Alfonso Cuaròn, der seine nur auf den ersten Blick unspektakuläre Kindheit ausgerechnet in einem atemberaubend-kunstfertigen Schwarz-Weiß-Epos mit einem der aufwändigsten Sound-Designs der Filmgeschichte verarbeiten wollte. Bei solch einem Pitch sitzt das Geld bei herkömmlichen Hollywoodstudios eher nicht so locker.
Der nächste Regisseur in dieser Reihe ist nun der Italiener Paolo Sorrentino, dessen Magnum Opus „La Grande Bellezza - Die große Schönheit“ 2014 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Für Netflix hat er in „Die Hand Gottes“ nun das tragische Ende seiner Jugend im Neapel der 1980er verfilmt – und zwar in überwältigenden Bildern, die den natürlichen Rahmen des eigentlich ganz familiären Coming-of-Age-Dramas konsequent aufsprengen.
Damit haben all die gerade genannten Filme einen ironischen Fakt gemein: Sie sind trotz ihrer Streaming-Heimat wie für die größtmögliche Leinwand gemacht…
Eine schrecklich verrückte Familie...
Zu Beginn der Achtzigerjahre ist ganz Neapel in Aufruhr. Es geht das Gerücht um, das Diego Maradona ausgerechnet zum Verein der Arbeitermetropole im wirtschaftlich abgehängten Süden Italiens wechseln könnte. Das steht die ganze Stadt Kopf - und das gilt natürlich auch für den einzelgängerischen Teenager Fabietto Schisa (Filippo Scotti) und seinen Vater Saverio (Toni Servillo), einen kommunistischen Banker, der seine ständig allen Streiche spielende Frau Maria (Teresa Saponangelo) zwar über alles liebt, sie aber trotzdem mit einer Kollegin betrügt.
Als die Eltern zu einem Wochenendausflug im neuen Haus in den Bergen aufbrechen, bleibt Fabietto daheim, um ein Spiel seines SSC Neapel zu besuchen. Aber dann geschieht eine schreckliche Katastrophe, die den Teenager schlagartig zwingt, erwachsen zu werden…
Zumindest das zentrale Unglück ist wirklich geschehen – und zwar tatsächlich, als Paolo Sorrentino als damals 16-Jähriger ein Fußballspiel mit Superstar Diego Maradona besucht hat. Nur wirkt in der cineastischen Erinnerung – und das sollte bei Sorrentino wohl niemanden verwundern – nun alles eine paar Nummern größer: Nach Rom in „La Grande Bellezza“ setzt der „The Young Pope“-Macher nun auch Neapel ein fulminant-leinwandfüllendes filmisches Denkmal. Selbst ein simples Familienfest wird bei ihm zu einer inszenatorischen Tour de Force, wie sie sonst wohl nur Sorrentinos großes Vorbild Federico Fellini („8 ½“) zu zelebrieren vermochte.
Ähnliches gilt für die Figuren: Offenbar war Sorrentinos Schwester damals oft im Badezimmer – also schließt sich Fabiettos Schwester nun (fast) den gesamten Film über im Bad ein. Sorrentinos Großtante wiederum hat gerne geflucht – also erzählt die stämmige Matriarchin im Film jedem, der es wagt, sie beim Verschlingen ihrer Burrata zu stören, dass er sich ins Knie ficken soll. Und weil das wie auf Knopfdruck funktioniert, macht sich die ganze Familie einen großen Spaß aus den zunehmend profaneren Beleidigungen. Es ist schon ein ziemlich skurriler Haufen, den Sorrentino hier mit einer unwiderstehlich-sommerlichen Energie in Szene setzt.
Die Rolle von Filippo Scotti heißt zwar Fabienne - ist aber natürlich das Alter-Ego von Regisseur Paolo Sorrentino.
Auch die Streiche seiner Mutter waren damals wohl kaum so ausgefeilt – und ob Sorrentino wie Fabietto wirklich erst drei Filme gesehen hat, bevor er sich für eine Karriere als Regisseur entschloss, darf ebenfalls bezweifelt werden. Nur bei dem Trubel, den die Ankunft Maradonas 1984 in Neapel ausgelöst hat, übertreibt Sorrentino nicht – aber das wäre wohl auch gar nicht möglich gewesen. Trotz der immer überhöhten, mitunter gar karikaturesken Zeichnung von Nachbar*innen und Familienmitgliedern landet „Die Hand Gottes“ aber auch seine emotionalen Momente zielsicher - vor allem das zentrale Unglück, das Sorrentino mit einer herzzerreißend-trügerischen Ruhe und Sanftheit in Szene setzt, geht ganz schön an die Nieren.
Nur im letzten Drittel, wenn Fabietto nach der Katastrophe auf eine Karriere als Kinoregisseur umschwenkt, verliert der zuvor so atemlos-mitreißende Film ein wenig an Fahrt. Aber dafür schlägt Sorrentino noch einen ungemein berührenden Bogen zum Auftakt des Films, wenn er sein jugendliches Alter-Ego sagen lässt, dass er Filme vor allem deshalb drehen will, um der sonst nicht auszuhaltenden Realität zu entfliehen. In den ersten Szenen von „Die Hand Gottes“ sehen wir nämlich Fabiennes Tante Luisa Ranieri (Luisa Ranieri), die sich von einem fremden Mann mitnehmen lässt, damit er sie zu einem kleinen Mönch bringt, der sie wiederum von ihrer Unfruchtbarkeit heilen soll.
Später finden wir heraus, dass das wahrscheinlich alles nur in ihrem Kopf stattgefunden hat und sie stattdessen einfach nur auf den Strich gegangen ist. Sie wird schließlich sogar in eine Psychiatrie eingewiesen. Aber Sorrentino weigert sich dennoch, die Auftaktsequenz als spinnerte Träumerei zu entlarven – ganz im Gegenteil setzt er mit der letzten Einstellung sogar noch einen drauf. So macht er mit „Die Hand Gottes“ nicht nur dem Publikum ein Geschenk, sondern auch seiner Tante, deren Flucht in die Fantasie er nun nachträglich (filmische) Wirklichkeit werden lässt…
Fazit: Ein ebenso berührendes wie bildgewaltiges und mitreißendes Coming-of-Age-Epos, wie es in dieser Form wohl nur der Regisseur von „La Grande Bellezza - Die große Schönheit“ zu inszenieren vermag.
Wie haben „Die Hand Gottes“ auf dem Filmfestival in Venedig gesehen, wo der Film als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.