Der Sexskandal bleibt aus, dafür liefert Netflix einen guten Film!
Von Sidney ScheringEr ist ein handfester Skandal – und zugleich ein Meilenstein des westlichen Literaturkanons: D. H. Lawrences 1928 veröffentlichter Roman „Lady Chatterleys Liebhaber“ wird immer wieder als Paradebeispiel dafür gefeiert, dass sich die menschliche Sexualität auch auf gehobenem Niveau völlig unverblümt beschreiben lässt. Diese Detailverliebtheit der sexuellen Schilderungen führte jedoch auch dazu, dass der Liebesroman über Jahrzehnte hinweg in zahlreichen Ländern Proteste konservativer Politiker*innen und Kirchenvertreter*innen auslöste und in Großbritannien Hintergrund beispielloser Rechtsstreitigkeiten war.
Das Buch wurde in vielen Ländern zensiert, oftmals nur in entschärfter Form übersetzt und in vielen Ländern, darunter Irland, Polen, Australien und Indien, gar als sittenwidrig verboten. Die letztlich erfolgte rechtliche „Befreiung“ des Romans in seiner Heimat kann sogar als wichtiger Aspekt der sexuellen Revolution Großbritanniens in den 1960er-Jahren bezeichnet werden. Die bisherigen Verfilmung haben derweil wenig Echo erzeugt. Nachdem der umstrittene Klassiker bislang bereits Softcore-Adaptionen und sogar komplett sexlose Verfilmungen durchlitt, gelingt der Regisseurin Laure de Clermont-Tonnerre nun ein Spagat: In ihren Händen ist das Netflix-Original „Lady Chatterleys Liebhaber“ zwar keinesfalls keusch, reduziert die Vorlage aber auch nicht allein auf das Fleischliche...
Nach der Kriegsverletzung ihres wohlhabenden Mannes Sir Clifford Chatterley (Matthew Duckett) …
Als sie Sir Clifford Chatterley (Matthew Duckett) heiratet, wird Connie Reid (Emma Corrin) zur neuen Lady Chatterley – und rechnet als solche fest mit einem sorglosen Leben im Reichtum. Doch als ihr Mann verletzt aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt und nicht mehr gehen kann, ändert sich das: Nun fühlt sie sich in einer freudlosen Ehe gefangen. Alsbald beginnt sie eine Affäre mit dem Wildhüter Oliver Mellors (Jack O'Connell), die sie nicht nur von ihrem Unglück ablenkt, sondern ihr auch zuvor ungeahnte sexuelle Erfüllung verschafft. Als sich Gerüchte über ihre Umtriebigkeit verbreiten, muss Lady Chatterley eine Entscheidung fällen: Will sie ihrem Herzen folgen oder sich den Erwartungen der Gesellschaft unterordnen?
Wer auf Netflix in die Verfilmung von „Lady Chatterleys Liebhaber“ in der Hoffnung einschaltet, mit skandalösen Sexszenen überschüttet zu werden, hat andere Ansprüche als Laure de Clermont-Tonnerre. Die „The Mustang“-Regisseurin versucht nämlich gar nicht erst, mit ihrem Film ähnlich zu schockieren, wie einst Lawrence mit seinem Roman. Das wäre heutzutage, wo selbst Machismos-Trash wie „365 Days“ mit einem Schulterzucken konsumiert wird, wohl eh nur noch schwer möglich. Stattdessen lässt sich die Haltung von Clermont-Tonnerre und ihrem Drehbuchautor David Magee gegenüber der Romanvorlage mit der Herangehensweise von Joe Wright und seiner Autorin Deborah Moggach bei ihrer populären Jane-Austen-Adaption „Stolz und Vorurteil“ vergleichen: Beide Filme eint, dass sie behutsame Modernisierungen darstellen, die der Essenz der Vorlage gerecht werden, sie aber durch dezente sprachliche und ästhetische Anpassungen für ein modernes Publikum greifbarer machen.
Die womöglich wichtigste kreative Entscheidung ist dabei die sehr bewegte Kameraarbeit: Wenn es in Connie aufgrund ihrer Unzufriedenheit brodelt, sucht die Kamera genauso unruhig nach Ablenkung wie sie. Sobald ihre Affäre beginnt, genießt die Kamera mit ihr die nun empfundene Freiheit. Auch die Dialoge werden entstaubt und mit Schwung vorgetragen. Jedoch wird anders als bei der kürzlich auf Netflix veröffentlichten Jane-Austen-Verfilmung „Überredung“ mit Dakota Johnson auf Ironie und Sarkasmus verzichtet: „Lady Chatterleys Liebhaber“ bleibt der sehnsuchtsvollen Dramatik der Figuren treu, drosselt in manchen Passagen sogar zwecks Glaubwürdigkeit ihre derbe Verspieltheit. Dafür gibt es zahlreiche genüsslich-beiläufige Momente, in denen die Mehrdeutigkeit des Verbs „kommen“ voll ausgekostet wird.
Eine moderne Frische wird darüber hinaus durch die Kleidung erzeugt, in die Lady Chatterley gehüllt wird, ohne sich dabei in Anachronismen zu flüchten: Schluss damit, dass sie nur zwischen schwelgerischen Kleidern, aus denen sie sich mühevoll schälen muss, und offenherzigen Tüchern wählen darf! Stattdessen trägt die Protagonistin eine breite Auswahl an funktionaler, prächtiger und kecker Mode auf, die verschiedene Facetten ihrer Körperlichkeit und Persönlichkeit unterstreicht. „Shakespeare In Love“-Kostümbildnerin Emma Fryer verpasst ihrem bereits aus „The Crown“ bekannten, nicht-binären Star zudem einzelne Outfits, die gemeinhin als maskulin empfunden werden, sowie Kleidung, die einen androgynen Anstrich hat. Das löst Connie Reid aus dem Korsett einer Männerfantasie und macht sie charakterlich greifbarer sowie selbstbestimmter: Selbstredend trägt dieser tatkräftige Dickschädel bei der Fahrt quer durch die kühl-nasse englische Provinz eine dicke Autofahrer-Kluft – und nicht etwa ein hübsches Kleidchen!
… wendet sich Lady Chatterley (Emma Corrin) dem wohlgebauten Wildhüter Oliver Mellors (Jack O'Connell) zu.
Die Sinnlichkeit in „Lady Chatterleys Liebhaber“ generiert sich derweil ebenso aus dem, was geschieht, wie den Entsagungen, die den Figuren und damit auch dem Publikum aufgezwungen werden: Clermont-Tonnerre und Kameramann Benoît Delhomme („A Most Wanted Man“) tauchen ihre vitalen Bilder zumeist in ein unterkühltes Blau. Dadurch gewinnen die strahlenden Szenen, in denen Corrins und O'Connells Körper in gesunder Wärme glühen, an leidenschaftlicher Energie und Begierde. Zudem setzt Clermont-Tonnerre auf einen prägnanten Einsatz der freizügigen Szenen: Sie nimmt sich erst einmal Zeit, bevor der Cast die Hüllen fallen lässt – und sobald Lady Chatterley enthemmt ihrer Affäre nachgeht, hebt sich die Regisseurin die längeren Sexszenen für dramaturgische Wendepunkte auf.
Zwischen frisch verliebtem Herumtollen auf saftig-grüner Wüste und rauem Frustsex, der den in eine soziale Ecke gedrängten Liebenden als Ventil dient, wird sich oft nur liebkost, strahlend unterhalten oder auch verstohlen abgesprochen. Nur träumerische Montagen und kurze Impressionen ineinander verschränkter Körper lassen in dieser Phase ab und zu die Flammen auflodern. Drastisch sind diese Szenen nicht, aber es gibt ein Wechselspiel zwischen Passagen mit scheuer Kameraführung und Sequenzen, in denen sehr wohl mehr gezeigt wird. So wird ein Element der Aufregung bewahrt. Darüber hinaus webt Clermont-Tonnerre die Szenen nahtlos in die Erzählung ein, da die Figuren während des Liebesspiels konsequent weitererzählt werden. Wenn Connie und Oliver etwa nach einem Intermezzo Schwierigkeiten beim Ankleiden haben und deswegen nicht aus dem Kichern herauskommen, prickelt das dank des nahbaren Spiels sogar mehr als manch forsch-erotischer Einschub zuvor.
Fazit: Keine Sex-Eskapade, sondern eine leidenschaftliche Ehebruch-Romanze, die sich weder in falscher Scheu noch in ausgestellter Vulgarität übt: „Lady Chatterleys Liebhaber“ ist eine stilvoll inszenierte, vital gefilmte, behutsam modernisierte Adaption eines skandalösen Romanklassikers.