Dramatisch und brutal
Von Lars-Christian DanielsBereits dreimal durfte Mila Sahin, die derzeitig jüngste „Tatort“-Kommissarin, seit ihrem Dienstantritt 2018 im hohen Norden ermitteln – im eigenwilligen „Tatort: Borowski und das Haus der Geister“, im tollen „Tatort: Borowski und das Glück der Anderen“ und zuletzt im enttäuschenden „Tatort: Borowski und das Haus am Meer“. Schon die Krimititel lassen durchklingen, dass die wichtigste Person in Kiel aber nicht unbedingt sie, sondern ihr Vorgesetzter ist – das war auch schon zu Zeiten ihrer Vorgängerinnen Sarah Brandt (Sibel Kekilli) und Frieda Jung (Maren Eggert) so, die jeweils ein paar Jahre an der Seite des altgedienten Hauptkommissars Klaus Borowski ermittelten.
In Hüseyin Tabaks „Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ wird dieses Ungleichgewicht ein wenig gerade gerückt: Sahin steht als Figur zum ersten Mal stärker im Blickpunkt, weil ein tödliches Drama in einer Polizeischule auch auf ihr Konto geht und die Aufarbeitung des Vorfalls ihre Qualitäten als Ermittlerin infrage stellt. Der frühe Schockmoment ist zugleich schon der Höhepunkt eines emotionalen Krimis, dem auf Dauer etwas die Puste ausgeht – und der sich am Psychogramm der labilen Täterin erst gar nicht versucht.
Borowski ist nach einer blutigen Tat vor seinen Augen schockiert (© NDR/Christine Schroeder).
Die vier Polizeischüler Nasrin (Soma Pysall), Sandro (Louis Held), Tobias (Enno Trebs) und Leroy (Stefan „Sero“ Hergli) üben gerade im Beisein ihrer Ausbilder das Fahren mit Blaulicht, als sie ein Notruf erreicht: Die junge Jule (Caro Cult), die gut mit Nasrin befreundet ist, steht auf dem Dach eines Hochhauses und will sich das Leben nehmen. Ihren Suizid können die vier trotz aller Bemühungen nicht verhindern. Am nächsten Morgen erscheinen Sandro, Tobias und Leroy nach einer durchzechten Nacht verkatert in der Polizeischule – zum Ärger der Kieler Hauptkommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Mila Sahin (Almila Bagriacik), die dort ein Seminar leiten. Bei einem Rollenspiel kommt es dann zu einem fatalen Zwischenfall: Nasrin, die die Nacht alleine verbracht und sich um ihren Freund Tobias Sorgen gemacht hat, sticht mit einem Schraubenzieher auf Sandro ein, der vor Ort verblutet. Hat Sandro sie provoziert? Aber womit und warum?
Die Drehbuchautoren Eva Zahn und Volker A. Zahn, die in den vergangenen Jahren bereits vier weitere Geschichten für die beliebteste deutsche Krimireihe konzipierten, setzen auf eine erzählerische Variante, die bei Borowski & Co. schon fast Tradition hat. Auch im viel gelobten „Tatort: Borowski und der stille Gast“ von 2012 oder dem ebenso überzeugenden „Tatort: Borowski und der Engel“ von 2013 stand der Mörder von vornherein fest – und es gibt viele weitere Kieler Beispiele dafür, dass nicht zwingend ein Täter gesucht werden muss, um in einem Krimi Spannung zu erzeugen. Im „Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ verzichten die Filmemacher ebenfalls auf das gewohnte Whodunit-Prinzip: Sie stellen nicht die übliche Frage nach dem Wer, sondern die nach dem Warum. Und die Antwort hat es in sich.
Nicht nur für die Kommissare, sondern auch für den Zuschauer erscheint der erschütternde Todesfall in der Polizeischule lange Zeit rätselhaft: Warum ersticht Nasrin ihren Mitschüler – und das mit einer Brutalität, die man im „Tatort“ selten so drastisch zu sehen bekommt? Die Antwort liegt in der Vergangenheit, und es ist an Borowski und Sahin, nicht nur die Ereignisse der feuchtfröhlichen Nacht zu rekonstruieren, sondern sich auch mit dem Schicksal der vom Hochhaus gesprungenen Jule zu beschäftigen, die mit Nasrin früher viel Zeit am Kiosk ihres Vaters Luca (Kida Khodr Ramadan) verbracht hat. Obwohl sie unter schlimmen Halluzinationen leidet und sich angeblich nicht an den Tathergang erinnert, würdigen die Filmemacher ihre dissoziative Amnesie aber keines näheren Blickes – Sahin blättert zwar kurz in der Fachliteratur, doch ansonsten kommt irritierenderweise statt einer ausgebildeten Psychologin nur Forensikerin Dr. Kroll (Anja Antonowicz) zu Wort.
Ein besonderer Reiz ergibt sich aber aus der Tatsache, dass die junge Frau im Verhörzimmer mit denselben Methoden konfrontiert wird, die sie als Polizeischülerin gerade erst selbst erlernen sollte – und dabei zeigt sich auch, dass die energische Sahin als Ermittlerin vielleicht gar nicht so weit ist, wie sie es als Seminarleiterin hätte sein sollen. Der offene Konflikt mit dem erfahrenen Borowski, der sich auch bei seinem 35. „Tatort“-Einsatz selten aus der Ruhe bringen lässt, ist der Charakterzeichnung im Krimi aus Kiel sehr dienlich – die obligatorische Begegnung mit Kripo-Chef Roland Schladitz (Thomas Kügel) hingegen läuft in der 1131. „Tatort“-Folge mal wieder auf Autopilot und liefert kaum mehr als drei Sätze über das Dilemma seiner Sandwich-Position und einen Hinweis auf einen Grillabend, für den Borowski mal wieder keine Zeit findet.
Jules Selbstmord ist der Auslöser (© NDR/Christine Schroeder).
Auch sonst ergibt sich beim Blick auf die Nebenfiguren kein durchgehend überzeugendes Bild: Während die Filmemacher viel Zeit in die Gefühlswelt der Polizeischüler investieren und Rapper Sero in seiner Nebenrolle ebenso überzeugt wie die schauspielerisch deutlich erfahreneren Enno Trebs („Verlorene“) und Soma Pysall („Huck“), schenken sie dem Barkeeper Enrique (Sascha Weingarten) und dem Fahrlehrer Volkan (Sahin Eryilmaz) wenig Beachtung. Weil die beiden im Hinblick auf Jules Vorgeschichte eine wichtige Rolle spielen, rächt sich das später – und das Drama entfaltet nicht ganz die Wucht, die hier möglich gewesen wäre. Kida Khodr Ramadan darf in seiner Rolle als aufbrausender Kioskbesitzer und trauernder Vater zwar ein wenig mehr zeigen, doch so charismatisch wie seine Auftritte als Toni Hamady fällt seine Performance bei der Wiederbegegnung mit „4 Blocks“-Kollegin Almila Bagriacik nicht aus.
Ansonsten hat man unterm Strich das Gefühl, dass die Filmemacher ihr Pulver recht früh verschießen: Der dramatische Suizid auf dem Hochhaus und der überraschende Todesfall in der Polizeischule sind das mit Abstand Packendste an diesem Krimi, der zwar in der Folge viel Emotionen bietet, aber vor allem im Mittelteil auch mit Längen zu kämpfen hat. Als sich der Nebel um Jules Schicksal und das (mindestens dreimal zu viel zitierte) Wort „Ficki-Micki-Bitch“ schließlich nach einer guten Stunde lüftet, ist die Luft dann fast ganz raus – ehe der Film in den Schlussminuten doch noch einmal zwei Gänge hochschaltet und auf der Zielgeraden erfreulicherweise keine Kompromisse mehr eingeht. Warum der Fall so unbedingt kunstvoll mit einer weißen Möwe in Verbindung gebracht werden muss, bleibt dabei aber bis zum Abspann rätselhaft.
Fazit: Packender Auftakt, dramatisches Ende und dazwischen Licht und Schatten: Der „Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe“ reicht unterm Strich nicht ganz an manch großartigen Kieler Krimi der vergangenen Jahre heran.