Drei Etagen sind mindestens eine zu viel
Von Ulf LepelmeierMit „Drei Etagen“ adaptiert Nanni Moretti („Mia Madre“) den in einem Apartmenthaus in Tel Aviv spielenden Roman „Über uns“ von Eshkol Nevo, dessen Motive rund um Schuld, Reue und das Auseinanderbrechen von familiären Strukturen sich perfekt in das Gesamtwerk des italienischen Filmemachers einfügen. Wurden die Geschichten in der literarischen Vorlage noch fokussiert auf die einzelnen Etagen weitestgehend getrennt voneinander in drei Kapiteln aufgerollt, wird im Film zwischen den dramatischen Handlungssträngen hin- und hergewechselt.
Mit zwei Zeitsprüngen von jeweils fünf Jahren fängt „Drei Etagen“ eine Dekade voller Anschuldigungen, Trauer und Tränen in einem römischen Mehrfamilienhaus ein. Zwar mit hochkarätigen Darstellern besetzt, aber um die präzisen Beobachtungen der israelischen Gesellschaft gekürzt, erreicht die Literaturverfilmung allerdings nicht die Tiefe früherer Werke des italienischen Regisseurs.
Familienvater Lucio (Riccardo Scamarcio) stürzt mit seinen manischen Verdächtigungen gleich zwei Familien ins Unglück...
In einem vornehmen Viertel in Rom wohnen drei Familien in verschiedenen Lebensphasen in einem Haus zusammen: Als Andrea (Alessandro Sperduti), der Sohn des im obersten Stockwerk wohnenden Richters Vittorio (Nanni Moretti) betrunken eine Frau überfährt und kurz darauf in das Erdgeschoss des Hauses kracht, brechen die Spannungen zwischen Vater und Sohn wieder auf, unter denen auch Mutter Dora (Margherita Buy) sehr zu leiden hat.
Nachbarin Monica (Alba Rohrwacher) bringt in derselben Nacht ihr erstes Kind zur Welt. Da ihr Mann auf einer Bohrinsel arbeitet, ist sie mit ihrem Baby fast immer allein. Für die einsame Frau drohen, wie schon bei ihrer Mutter, Realität und Fantasie zu verschwimmen. Und dann steht auch noch ihr zwielichtiger Schwager Roberto (Stefano Dionisi) vor der Tür und benötigt ihre Hilfe.
Der Familienvater Lucio (Riccardo Scamarcio) ist unterdessen besessen von der Angst, dass ein mittlerweile seniler Nachbar, der jahrelang stundenweise auf seine kleine Tochter aufgepasst hat, sich dieser unsittlich genähert haben könnte. Nur noch darauf fixiert, seine düstere Ahnung beweisen zu können, begeht er selbst einen verhängnisvollen Fehler, der beide Familien zutiefst erschüttert…
Fragile familiäre Beziehungen, wie sie Moretti schon immer in seinen Regiearbeiten ganz besonders interessiert haben, finden sich auch in „Drei Etagen“ in verschiedenen Konstellationen wieder. Waren die Trauer und die Verletzlichkeit der Familienmitglieder in dem 2001 in Cannes mit der Goldenen Palme prämierten „Das Zimmer meines Sohnes“ für den Zuschauer aber noch spürbar und überaus ergreifend, erhalten die einzelnen Erzählsträng in „Drei Etagen“, die sich wohl eher für eine Miniserien-Umsetzung angeboten hätten, nicht genug Zeit, um sich wirklich entfalten und eine emotionale Tiefe entwickeln zu können.
Während in einer der ersten Szenen von „Das Zimmer meines Sohnes“ eine ausgelassen auf der Straße musizierende Religionsgruppierung die Lebensfreude des Vaters vor dem tragischen Verlust des Sohnes spiegelt, ist eine ähnliche Sequenz der lösenden Fröhlichkeit auch zum Ende von „Drei Etagen“ wiederzufinden. Hier wirkt die Straßentanzperformance, welcher die Bewohner des Apartmenthauses vom Bürgersteig aus freudig betrachten, allerdings wie ein frommer Wunsch, dass nach all den Dramen nun glücklichere Zeiten für die emotional gebeutelte Nachbarschaft anbrechen mögen.
Gerade Mutter geworden, hat Monica (Alba Rohrwacher) höllische Angst, wie ihre Mutter an Wahnvorstellungen zu leiden.
Im Kontrast zu der Fülle an schwerwiegenden Ereignissen inszeniert Moretti seinen Film, bei dem er auch selbst in der Rolle des strikten Richters Vittorio vor der Kamera zu sehen ist, recht nüchtern. Souverän baut er seine einzelnen Familienszenarien auf und führt die Figuren voller Empathie für deren Lebenssituationen ohne falsche Sentimentalitäten routiniert ein. Lucios Handlungsstrang, der Aspekte von #MeToo und dem Grundsatz der Unschuldsvermutung behandelt, überzeugt dabei am wenigsten. So wirkt diese Geschichte viel zu konstruiert. So erhalten die zwanghaften Gedanken und damit einhergehenden Anschuldigungen des von Riccardo Scamarcio („Der Unbarmherzige“) mit großem Einsatz dargestellten Familienvaters schon etwas übertrieben Manisches.
Alba Rohrwacher („Glücklich wie Lazzaro“) fängt die Unsicherheit und zunehmende Entrücktheit Monicas, die sich bewusst ist, dass die Wahnvorstellungen ihrer Mutter auch bei ihr einsetzen, gekonnt ein. Den rundesten Eindruck hinterlässt allerdings die von Fremdbestimmung geprägte Lebensgeschichte Doras, die von Morettis Stamm-Schauspielerin Margherita Buy („Habemus Papam – Ein Papst büxt aus“) großartig zurückhaltend und nuanciert verkörpert wird.
Die schon etwas angestaubte Gegenüberstellung von männlicher Sturheit und weiblicher Versöhnungskraft zieht sich als roter Faden durch den Film: Die zerstörte Beziehung zwischen Vater und Sohn zwingt die stets um einen Ausgleich bemühte Dora dazu, für eine Seite Position zu beziehen. Monicas vielbeschäftigter Ehemann scheint einfach zu ignorieren, in welcher Lage sich seine überforderte und in der Einsamkeit Wahnvorstellungen entwickelnde Frau befindet – und Lucio zerstört mit seinen Anschuldigungen sowie seinem eigenen Fehlverhalten nicht nur seine eigene Familie, sondern reißt auch gleich die Nachbarn mit ins Unglück.
Alle männlichen Figuren sind hier aufgrund ihrer Verbissenheit jeweils die Ausgangspunkte und treibemden Kräfte hinter den dramatischen Ereignissen, während die weitaus weitsichtigeren Frauen hierunter zu leiden haben oder mit ihren Verständigungsbemühungen auf Wände aus gekränktem Stolz und Uneinsichtigkeit stoßen…
Fazit: Die von Schuld, Liebe und Fehlentscheidungen getriebenen Leben der Bewohner*innen eines dreistöckigen Gebäudes verwebt Nanni Moretti routiniert zu einem etwas überladenen Melodrama, das sich über ein ganzes Jahrzehnt erstreckt. Auch wenn die Schauspieler in ihren Rollen überzeugen und viele relevante Themen angeschnitten werden, bekommen die in „Drei Etagen“ nebeneinander herlaufenden Geschichten jeweils zu wenig Raum, um ihre Kraft auch wirklich zu entfalten.