Ein Film wie eine leichte Sommerbrise
Von Jochen WernerNicht wenige Roadmovies leben ganz wesentlich von der Unterschiedlichkeit ihrer Figuren, die doch eigentlich so gar nichts miteinander zu tun haben wollen und die doch von irgendwelchen ungewöhnlichen Umständen dazu gezwungen werden, eine gemeinsame Reise zu unternehmen. Das ist auch in Patrick Büchtings Debütfilm „Morgen irgendwo am Meer“ nicht anders: Konrad (Jonas Kaufmann) und Romy (Carlotta Weide) waren sich einmal nah und haben aus einem zunächst ungenannten Grund den Kontakt zueinander abgebrochen. Doch nun, nach dem Abitur, fragt Konrad Romy, scheinbar aus heiterem Himmel, ob sie nicht mit ihm nach Lissabon fahren möchte.
Romys Freund Julian (Louie Betton) steht zunächst nur verblüfft daneben – und reagiert dann endgültig fassungslos, als seine Freundin ihm eröffnet, dass sie tatsächlich auf Konrads Vorschlag einzugehen gedenkt. Etwas überrumpelt geht Julian sogar auf Romys Bitte ein, sie und den plötzlich aufgetauchten Nebenbuhler mit dem elterlichen Auto quer durch Europa zu chauffieren. Und mit der stets fröhlichen, aber natürlich auch ein dunkleres Geheimnis mit sich herumschleppenden Nele (Sophia Münster) kommt zum Benzinkostensparen noch eine weitere Mitfahrgelegenheit an Bord.
Das Zustandekommen dieser ungleichen Fahrgemeinschaft ist nicht unbedingt bis ins Detail nachvollziehbar auserzählt: Dass Romy sich auf Konrads Idee einlässt, scheint angesichts der im Verlauf des Films nach und nach aufgedeckten gemeinsamen Vergangenheit noch halbwegs nachvollziehbar. Dass Julian sich hingegen willig auf diese Reisegruppe einlässt und mit Nele gleich noch eine weitere Unbekannte in die ohnehin explosive Konstellation hineinholt, schon weniger. Aber dass sich „Morgen irgendwo am Meer“ nicht endlos verbiegt, um diese Grundidee narrativ zu unterfüttern, zählt eher zu seinen Stärken, denn schließlich geht es in einem Roadmovie zunächst einmal darum, die Figuren miteinander auf die Straße zu bringen.
Das gelingt Patrick Büchting innerhalb weniger Minuten, in denen jede Figur noch ein wenig persönlichen familiären Ballast in den Rucksack gepackt bekommt – von Romys überbehütenden, sich in alles einmischenden Helikoptereltern bis zur bevorstehenden Scheidung von Julians Erzeugern. Und dann geht’s los Richtung Lissabon, mit einer ganzen Reihe geplanter Zwischenstopps in Mâcon, Lyon, Arles, Saintes-Maries-de-la-Mer, Lloret, Barcelona und Madrid.
Um all diese malerischen Städte und Städtchen abzuklappern, nimmt sich der Regisseur gerade mal 80 Minuten Zeit, und das ist vielleicht auch die größte Stärke dieses schönen, dichten und temporeichen Films. Denn im Verlauf des teils fröhlichen, teils konfliktreichen Trips müssen natürlich alle noch ein von der Familie oder der Vergangenheit auferlegtes Päckchen aufschnüren und etwas Psycho- und Trauerarbeit in Sachen Erwachsenwerden leisten. Zerredet wird aber eigentlich nichts davon, wichtig ist zu jeder Zeit, dass die Reise immer weiter geht – bis zum Meer, bis zur „letzten Currywurst vor Amerika“. Ein wenig Ruhe nach so viel Wegstrecke, nach so vielen Konflikten, nach so viel Beziehungsarbeit. Eine Ruhe, die auch nur ein kurzes Durchschnaufen ist, bevor der eigentliche Weg erst beginnt – der Weg ins Erwachsenwerden, in die Abnabelung vom Elternhaus, durch die Aufarbeitung vergangener Verluste und Schuldgefühle hindurch.
Es ist eine gute Zeit für Roadmovies für Kinder und Jugendliche im deutschen Kino. Fatih Akins Wolfgang-Herrndorf-Verfilmung „Tschick“ ist noch kein Jahrzehnt alt und kann vermutlich bereits als moderner Klassiker gelten – und mit seiner schönen, wilden Kinderbuchverfilmung „Kannawoniwasein!“ legte Stefan Westerwelle im letzten Jahr einen der besten deutschen Kinderfilme der letzten Jahre vor. Mit diesen beiden Filmen hat „Morgen irgendwo am Meer“ den Rückgriff auf eine Literaturvorlage gemein. Aber die Protagonist*innen im Roman von Adriana Popescu und damit nun auch in der Adaption von Patrick Büchting sind ein paar entscheidende Jahre älter als die kindlichen oder frühpubertären Helden bei Akin oder Westerwelle. Und werfen damit auch ein Stück weit die Frage auf, wo denn eigentlich diese Altersgruppe der jungen Erwachsenen auf dem Beginn ihres Wegs ins Leben geblieben ist im deutschen Film.
Denn während es einstmals im deutschen Kino nur so wimmelte von Coming-of-Age-Filmen – von rührend bis klamaukig, von „Crazy“ bis „Nach fünf im Urwald“, von „Sommersturm“ bis „Schule“, von „Nichts bereuen“ bis „Harte Jungs“ oder „Mädchen, Mädchen!“ – scheint diese Zielgruppe heute weitgehend aufgegeben. Zwischen Kinderfilmen und den bürgerlichen Lebenswelten eher gesetzter Best Ager klafft eine unübersehbare Repräsentationslücke. Aber woran liegt das eigentlich, dass dem deutschen Kino zu den Lebenswelten junger Erwachsener so wenig einfällt? Und ist es vielleicht gerade ein Film wie dieser – mit minimalem Budget von einem gerade mal 25-jährigen Debütanten mit einem jungen Cast voller frischer Gesichter gedreht –, der da mal wieder etwas frischen Wind hereinbringen könnte?
Ein Erfolg an den Kinokassen wäre ihnen allen zu wünschen – dem Regisseur und seinen begabten Schauspieler*innen, unter denen vor allem Jonas Kaufmann und Sophia Münster herausragen, und nicht zuletzt auch uns, dem Publikum. Denn „Morgen irgendwo am Meer“ mag kein narrativ perfekt konstruierter Film sein, macht das aber durch eine große Portion unbekümmerter Spielfreude mehr als wett. Wie eine leichte, sonnige Sommerbrise weht er uns kurzweilige 80 Minuten lang um die Ohren, und es bleibt zu hoffen, dass er dennoch ein paar Spuren im manchmal etwas vergreist anmutenden deutschen Gegenwartskino hinterlässt.
Fazit: Ein schönes, sommerliches Roadmovie voller Spielfreude und eine frische Stimme im deutschen Kino. Patrick Büchtings Regiedebüt „Morgen irgendwo am Meer“ bringt mit einem tollen jungen Cast eine allzu oft vermisste jugendliche Energie und Unbekümmertheit ins deutsche Kino zurück.