Der Musical-Megahit rockt auch im Kino alles weg!
Von Christoph PetersenSeit seiner Uraufführung im Jahr 2003 hat das Musical „Wicked“ weltweit mehr als 3,5 Milliarden Dollar an den Theaterkassen umgesetzt. In der Liste der erfolgreichsten Filme aller Zeiten würde das locker für die Spitzenposition reichen – mit einem deutlichen Abstand vor „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ (2,9 Milliarden Dollar) und „Avengers 4: Endgame“ (2,8 Milliarden Dollar). Aber einen Kinohit garantiert allein die Beliebtheit der Vorlage trotzdem nicht, davon können die Katzen aus „Cats“ buchstäblich ein Lied singen: Obwohl „Cats“ in der Liste der erfolgreichsten Musical-Franchises aller Zeiten sogar noch eine Position vor „Wicked“ auf Platz 4 steht, ging die mit einem Blockbuster-Budget ausgestattete Verfilmung 2019 gnadenlos baden. Statt Standing Ovations erntete das Leinwand-Musical fast ausschließlich Hohn und Spott – bis schließlich sogar die Darsteller*innen anfingen, sich über ihren eigenen Film lustig zu machen.
Aber so viel wie „Les Misérables“-Regisseur Tobe Hooper bei „Cats“ falsch gemacht hat, so viel macht „In The Heights“-Mastermind Jon M. Chu bei „Wicked“ nun richtig: Mehr als 300 Millionen Dollar standen ihm für die zwei Filme – „Wicked – Teil 2“ folgt am 25. November 2025 – zur Verfügung. Aber statt in verstörende CGI-Effekte hat Chu das Budget genau richtig investiert, nämlich in größtenteils tatsächlich gebaute Prachtkulissen sowie zwei Hauptdarstellerinnen, die in absoluter Perfektion in ihren so gegensätzlichen Rollen aufgehen. Der vor und nach den bekannten Geschehnissen aus dem Klassiker „Der Zauberer von Oz“ angesiedelte „Wicked“ ist ein Fantasy-Abenteuer mit immensem Unterhaltungswert, das trotz aller Farbenpracht mit einem düster-dystopischen, emotional-niederschmetternden Plot fast schon auf Augenhöhe mit den späteren „Harry Potter“-Bänden begeistert und herausfordert.
Die Hexe ist tot. Mit einem Eimer Wasser wurde sie zum Schmelzen gebracht – und das Publikum weiß natürlich, dass da ein Mädchen namens Dorothy, eine Vogelscheuche, ein Blechmann sowie ein ängstlicher Löwe ihre Finger im Spiel gehabt haben müssen. Aber warum wurde die böse (= „wicked“) Hexe des Westens eigentlich derart böse? Dieser Frage geht „Wicked“ nach, indem es in die College-Zeit seiner zwei Protagonistinnen zurückspringt: Elphaba (Cynthia Erivo) ist nach einem folgenschweren Seitensprung ihrer Mutter mit grüner Hautfarbe zur Welt gekommen. Seitdem führt sie ein Leben als Außenseiterin – nicht einmal ihr eigener Vater, der Gouverneur von Munchkinland, hat auch nur einen Funken Liebe für sie übrig. Eine akademische Ausbildung ist für sie nicht vorgesehen, auch in die prestigeträchtige Universität Glizz begleitet sie eigentlich nur ihre im Rollstuhl sitzende kleine Schwester Nessarose (Marissa Bode) an ihrem ersten Studientag.
Allerdings erkennt die Schulleiterin Madame Morrible (Michelle Yeoh) die große magische Begabung von Elphaba – und besteht darauf, sie fortan persönlich zu unterrichten. Das wiederum macht die von allen geliebte, schrecklich verwöhnte Glinda (Ariana Grande) wahnsinnig eifersüchtig – schließlich war sie fest davon ausgegangen, in der Gunst der Direktorin an erster Stelle zu stehen. Während sich die unfreiwilligen Zimmergenossinnen mit der Zeit doch noch zusammenraufen und schließlich sogar anfreunden, nimmt der gegen sprechende Tiere gerichtete Rassismus immer mehr zu. Professor Dr. Dillamond (Stimme im Original: Peter Dinklage), eine Ziege, wird sogar mit einem Berufsverbot belegt und vor den Augen seiner Student*innen abgeführt. Elphabas einzige Hoffnung: der großartige Zauberer von Oz (Jeff Goldblum), der sie sogar zu sich in seinen Palast in Smaragdstadt einlädt…
„Wicked“ beginnt zwar mit Elphabas ikonischem Hexenhut in einer dampfenden teerenden Pfütze, während Dorothy und ihre Begleiter nach erledigter „Heldentat“ gutgelaunt die Yellow Brick Road entlanghüpfen. Aber trotz dieses düster-ironischen Auftakts und der sich verdichtenden Anzeichen einer despotischen Verschwörung ist „Wicked“ – gerade im Vergleich zur sicherlich sehr viel finstereren Fortsetzung im kommenden Jahr – noch ein vor allem freudvoller und farbenfroher Film: Die erste Kamerafahrt vom Schloss der Hexe des Westens bis nach Munchkinland inklusive eines blauen fliegenden Affen offenbart die ganze Schönheit von Oz – und zwar in völlig soliden CGI-Animationen, an denen es wenig zu meckern gibt, die einen aber auch nicht unbedingt vom Hocker reißen. Aber das wird dann schon wenig später nachgeholt …
… denn Jon M. Chu hat darauf bestanden, die wichtigsten Schauplätze wie Munchkinland, die Universität Glizz und Smaragdstadt in beträchtlichem Umfang und mit einem begeisternden Detailreichtum tatsächlich als Sets nachbauen zu lassen. Natürlich kommen da trotzdem Greenscreens zum Einsatz, aber eben deutlich weniger als in vergleichbaren Fantasy-Blockbuster-Produktionen – und so lädt „Wicked“ immer wieder zum Staunen ein, wobei die opulenten Kostüme des oscarnominierten Designers Paul Tazewell („West Side Story“) da noch nicht mal mit eingerechnet sind. „Wicked“ ist auf der Theaterbühne ein absolutes Spektakel, und Jon M. Chu setzt genau die richtigen Schwerpunkte, um von diesem unbestreitbaren Wow-Faktor auch auf der großen Leinwand möglichst nichts einzubüßen.
Der größte Trumpf von „Wicked“ bleibt dennoch der Cast – und dort allen voran die beiden Hauptdarstellerinnen: Ariana Grande, selbst ein gefeierter Popstar mit mehr als 375 Millionen Instagram-Follower*innen sowie eigenem Beauty-Imperium, tänzelt mit Trippelschritten wie auf Wolken durch die Szenerie – eine herrliche selbstironische Performance in Pink, garniert mit verwöhnt-naiven Dialog-Bonmots wie: „Irgendwas ist ganz falsch. Ich habe meinen Willen nicht bekommen.“ Dabei meistert sie den schmalen Grat, sie gleichermaßen zu verachten und zu bemitleiden, sodass man bei der vorsichtig aufkeimenden Freundschaft zu Elphaba trotzdem die Daumen drückt, dass sie vielleicht doch noch aus ihrer nur nach ständiger Bewunderung strebenden Haut herauskommt. Die zweifach oscarnominierte Cynthia Erivo („Harriet“) lässt unterdessen trotz grünem Make-up die ganze Wut, aber auch das unumstößliche Gerechtigkeitsgefühl ihrer Figur durchscheinen.
Wie im ersten Akt des Musicals kulminiert die Annäherung der beiden im Gänsehaut-Song „Defying Gravity“ / „Frei und schwerelos“, der zugleich auch den großen Bruch andeutet – ein echt fieser Cliffhanger, wenn man bedenkt, dass man nun nicht nur eine 15-minütige Theaterpause hindurch, sondern fast ein ganzes Jahr auf die Fortsetzung warten muss. Aber es spricht viel – allen voran natürlich die Qualität des ersten Teils – dafür, dass sich das lange Ausharren lohnt: Ähnlich wie in den späteren „Harry Potter“-Geschichten lauern unter all der magischen Farbenpracht der fantastischen Welt von Oz düstere Abgründe. Der Pöbel wird immer wieder zur missbrauchten und ferngesteuerten Masse – eine unverhohlene, aber wirkungsvolle Propaganda-Parabel, die mit ihrer Gesellschaftskritik ins Schwarze trifft und dabei auch noch emotional mitreißt. In „Wicked“ wird vieles davon erst mal nur (unübersehbar) angedeutet, aber Kenner*innen des Musicals wissen, dass die zweite Hälfte in dieser Hinsicht sehr wohl hält, was der erste Akt verspricht…
Fazit: „Wicked“ ist so gut, wie „Cats“ schlecht war! Die zwei herausragend harmonierenden Hauptdarstellerinnen sowie die grandiosen Produktionswerte samt opulenter Musicalnummern machen auch die Leinwand-Umsetzung des Broadway-Megahits zu einem absoluten Must-See (zumindest für alle, die nicht schon beim ersten gesungenen Wort instinktiv die Saalflucht ergreifen).