Voll Psycho!
Von Lars-Christian Daniels„Ich glaube, dass ein politischer Inhalt und eine sozialkritische Botschaft für sie etwas wichtiger gewesen sind als für mich“, äußerte sich die neue Dresdner „Tatort“-Kommissarin Cornelia Gröschel in einem Interview durchaus verständnisvoll über ihre Vorgängerin Alwara Höfels, die nach sieben Einsätzen im Elbflorenz und einem Zerwürfnis mit dem MDR Ende 2017 das Handtuch geschmissen hatte. Neben der Hauptdarstellerin trennte sich der Sender fast zeitgleich auch noch von Drehbuchautor Ralf Husmann, der die ersten drei Krimis aus Sachsen konzipiert und in seinen Geschichten mit eher überschaubarem Erfolg einen ironisch angehauchten Ansatz verfolgt hatte. Mittlerweile hat der MDR eine klare Kursänderung vollzogen, was dem „Tatort“ aus Dresden gut getan hat: Nach dem vielgelobten „Tatort: Déjà-vu“ und dem ebenfalls überzeugenden „Tatort: Wer jetzt allein ist“ folgt mit Alex Eslams „Tatort: Das Nest“ nun ein packender Psychothriller, in dem die Debütantin Cornelia Gröschel in ihrer neuen Rolle gleich mal richtig gefordert ist.
Als die junge Maja Peters (Judith Neumann) nach einem nächtlichen Autounfall verzweifelt in einem Wald nach Hilfe sucht, führt sie ihr Weg zu einem vermeintlich leerstehenden, abgelegenen Hotel. Dort beobachtet sie einen maskierten Unbekannten, der sich an einem leblosen Opfer zu schaffen macht. Peters rettet sich zur nächsten Straße und informiert die Polizei. Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach), Oberkommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und ihre neue Kollegin Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) durchsuchen mit einem SEK das Gebäude und finden dort weitere Leichen – der Täter allerdings kann entkommen und verletzt Gorniak dabei schwer. Zwei Monate später ist die Kommissarin wieder genesen und lässt sich in die Asservatenkammer versetzen – erhält aber schon bald Besuch von Winkler, die mit dem Fall nicht vorankommt. Gemeinsam reduzieren die beiden den Kreis der Verdächtigen auf zwei Personen, die in derselben Klinik arbeiten: den Chirurgen Christian Mertens (Benjamin Sadler), der mit seiner Frau Nadine (Anja Schneider) und seiner Tochter Nikki (Runa Greiner) ein beschauliches Familienleben führt, und den Krankenpfleger Bernd Haimann (Wolfgang Menardi), der Mertens zum Verwechseln ähnlich sieht…
Die Neue schaut bei der Toten noch mal ganz genau hin.
Das erste Aufeinandertreffen der beiden Dresdner „Tatort“-Kommissarinnen gestaltet sich so, wie wir es in der Krimireihe schon sehr häufig beobachten konnten: Zuletzt waren es zum Beispiel die nach Lüneburg strafversetzte Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und der Dortmunder Ermittler Jan Pawlak (Rick Okon), denen bei ihren ersten Einsätzen an der Seite neuer Kollegen in „Tatort: Das verschwundene Kind“ bzw. „Tatort: Tod und Spiele“ eisiger Wind ins Gesicht blies. In „Tatort: Das Nest“ fällt die Begegnung ähnlich frostig aus, wenngleich Leonie Winkler daran nicht ganz unschuldig ist: Weil ihr im entscheidenden Moment die Nerven versagen, wird ihre Partnerin Karin Gorniak einleitend lebensgefährlich verletzt. Der Film generiert daraus einen ersten zentralen Konflikt, der der Charakterzeichnung sehr dienlich ist: Während Gorniak auch intuitiv handelt und die Fakten zum Ärger ihres Chefs Schnabel im Zweifelsfall hintenanstellt, ist Winkler eher die Streberin, die die Polizeischule als Jahrgangsbeste abgeschlossen hat und trotzdem nicht allein auf die Spur des Täters kommt. In angemessener Knappheit umrissen wird außerdem Winklers schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater Otto (Uwe Preuss, auch regelmäßig im starken Rostocker „Polizeiruf 110“ zu sehen), deren große Fußstapfen sie im Polizeipräsidium auszufüllen versucht.
Ansonsten setzt Drehbuchautor Erol Yesilkaya, der in den vergangenen Jahren unter anderem die Geschichten zum grandiosen Berliner „Tatort: Meta“ und zum spannenden Bamberger „Tatort: Ein Tag wie jeder andere“ schrieb, auf eine zeitlich in etwa gleich gewichtete Kreuzung aus einem klassischem Whodunit und einem fiebrigen Howcatchem: Die Frage, wer die im Hotel zur Schau gestellten Opfer auf dem Gewissen hat, ist schon nach einer Dreiviertelstunde beantwortet. Das Aufeinandertreffen der beiden einzigen Verdächtigen in einem Parkhaus und die überraschende Auflösung der Täterfrage werden von Regisseur Alex Eslam („SOKO Köln“) dabei sehr gekonnt inszeniert und sorgen für einen echten Gänsehautmoment, an denen es diesem tollen Psychothriller ohnehin nicht mangelt: Das einleitende Entdecken des Mörders und seiner schaurigen Leichensammlung im nächtlichen Waldhotel stünde einem waschechten Horrorfilm kaum schlechter zu Gesicht und zählt zu den packendsten Sequenzen der jüngeren „Tatort“-Geschichte. Später verlangt ein Besuch des Täters bei Gorniaks pubertierendem Sohn Aaron (Alessandro Schuster) dem zartbesaiteten Teil des TV-Publikums einiges an Nervenstärke ab.
Die zwei Toten am Frühstückstisch sind längst nicht die einzigen Opfer...
Keine Frage, der 1092. „Tatort“ ist der düsterste Sonntagskrimi seit Monaten und weiß von Minute 1 an mitzureißen, doch haben die steile Spannungskurve, die wendungsreiche Jagd auf den Serienmörder und das dramatische Finale einen großen Wermutstropfen: Das Motiv des Täters bleibt unterm Strich fast komplett im Dunkeln. Ein solcher Ansatz – schließlich muss man auch im „Tatort“ nicht immer alles auserzählen – ist durchaus legitim, doch wirkt das Ganze hier ziemlich halbgar: „Ich wollte immer schon töten. Ich bin so geboren, das ist meine Natur“, charakterisiert der Täter sich in einer der Schlüsselszenen des Films selbst, scheint dabei aber selbst nicht so ganz zu wissen, was er eigentlich damit meint. Auch das Profiling im Präsidium wird binnen Sekunden im Rahmen einiger mit Wörtern wie „Kontrolle“ beschrifteten Fotos im Vorbeigehen abgefrühstückt. Über das eine oder andere Logikloch müssen wir ebenfalls hinwegsehen, was angesichts des hohen Unterhaltungswerts aber locker zu verschmerzen ist: Wie der Täter beispielsweise mühelos aus einem vom SEK umstellten Hotel flüchten und anschließend einfach spurlos untertauchen kann, wird wohl das Geheimnis der Dresdner Mordkommission bleiben.
Fazit: Alex Eslams „Tatort: Das Nest“ ist ein auffallend düsterer und hochspannend inszenierter Psychothriller mit kleineren Schwächen im Drehbuch.