Netflix‘ Afrika-Drama pfeift auf den üblichen Pathos
Von Michael MeynsDie Geschichte des jungen William Kamkwamba, der im südostafrikanischen Staat Malawi in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und mit Intelligenz und Erfindungsreichtum eine Windmühle baute, ist wie gemacht für eine sentimentale Hollywoodverfilmung mit Oscarambitionen. Doch nicht die zum Zuckerguss und zur Überdramatisierung neigende Traumfabrik hat die Geschichte Williams verfilmt, sondern der britische Schauspieler Chiwetel Ejiofor („12 Years A Slave“) mit der Unterstützung des British Film Institutes, das bekannt dafür ist, eher erzählerisch oder visuell außergewöhnliche Filme zu fördern (zuletzt zum Beispiel „Cold War“ oder „Brooklyn“). „Der Junge, der den Wind einfing“ ist deshalb so sehenswert, weil der auch für das Drehbuch selbst verantwortlich zeichnende Ejiofor in seinem inzwischen von Netflix aufgekauften Regiedebüt die üblichen Fallstricke konsequent umschifft und stattdessen auf zurückhaltende und erfreulich nüchterne Weise eine durch und durch afrikanische Erfolgsgeschichte erzählt.
Der 14-jährige William Kamkwamba (Maxwell Simba) wächst in einem kleinen Dorf in Malawi auf. Sein Vater Trywell (Chiwetel Ejiofor) ist ein Bauer, der mit großem Eifer versucht, seine Familie vor dem Abgleiten unter das Existenzminimum zu bewahren. Doch das Geld ist knapp und heftige Regenfälle haben die Ernte vernichtet. Tochter Annie (Lily Banda) hofft, auf die Universität gehen zu können, und auch William träumt von einem besseren Leben. Aber weil sein Vater die Gebühren einfach nicht mehr bezahlen kann, muss er die Schule verlassen. Einer der Lehrer erlaubt ihm allerdings, sich trotzdem weiterhin in der Bibliothek aufzuhalten und sich dort sein Wissen anzulesen. Mit Erfolg: Aus schrottreifen Einzelteilen und dem wertvollsten Besitz seines Vaters, einem Fahrrad, gelingt es ihm, eine Windmühle zu bauen, die fortan Elektrizität für das ganze Dorf erzeugt…
Der in London als Sohn nigerianischer Einwanderer geborene Chiwetel Ejiofor erzählt mit „Der Junge, der den Wind einfing“ puristisch-afrikanische Geschichte, in der kein einziger Weißer vorkommt. Hier gibt es weder die für viele in Afrika spielende Filme so typischen Entwicklungshelfer oder Touristen. Und vor allem nicht die in so unterschiedlichsten Filmen wie „Amistad“, „Blood Diamond“ oder „Tränen der Sonne“ meist sogar im Vordergrund stehende White-Saviour-Figur, die den Schwarzen zeigt, wie sie sich aus ihrer Not befreien können (oder sich gleich selbst um alles Nötige kümmert). Stattdessen sind sämtliche Figuren schwarz – von den Protagonisten bis hin zu den korrupten Politikern, die sich nicht im Geringsten um die Nöte der Landbevölkerung scheren.
Ejiofor lässt sich zu Beginn viel Zeit, um die Welt zu schildern, in der William aufwächst: Ein Leben auf dem Dorf ohne Elektrizität, geprägt von Subsistenzlandwirtschaft, die stets Gefahr läuft, durch extremes Wetter gestört zu werden – mal von zu starken Regenfällen, mal von ausbleibenden Niederschlägen. Der einzige Ausweg ist Bildung. Dafür nehmen die Schulkinder oft stundenlange Wege zur nächsten Schule in einer entfernten Kleinstadt auf sich. Gezeigt wird so eine Dorfgemeinschaft, die sich im Lauf der Jahrzehnte kaum geändert zu haben scheint. Die Zeit scheint hier still zu stehen. Doch Ejiofor verklärt diese traditionelle Existenz nicht, sondern zeigt sie ganz nüchtern mit all ihren Vor- und Nachteilen.
Das geschieht mit einer manchmal fast unnahbar wirkenden Beiläufigkeit, die aber gerade bei dieser Geschichte sehr gut passt. Der naheliegendere und wohl auch leichtere Weg wäre es gewesen, die Entbehrungen der Familie und dann vor allem ihre beginnende Hungersnot noch zusätzlich zu dramatisieren, um dann schließlich die Rettung durch Williams Einfallsreichtum zu einem mitreißenden, heroischen Moment zu stilisieren. Bisweilen jaulen zwar auch hier die Geigen auf der Tonspur, während das Licht voll erhabener Schönheit erstrahlt, aber insgesamt gelingt es Ejiofor meist, die üblicherweise durch solche Bilder und Musikeinsätze evozierte Rührseligkeit und Sentimentalität zu vermeiden. Der eine oder andere Zuschauer mag es für Verschwendung halten, dass Williams Geschichte nicht mit mehr Pathos, nicht mit der Wucht eines Hollywoodfilms erzählt wird und so vielleicht auch der ein oder andere mögliche Gänsehautmoment ausbleibt. Aber man sollte besser gerade diese Zurückhaltung für eine Stärke halten, erlaubt sie es doch, dass Williams Schicksal und sein Einfallsreichtum für sich selbst sprechen, statt dass die durch exaltierte filmische Mittel einfach nur behauptet werden.
Fazit: Der oscarnominierte Schauspieler Chiwetel Ejiofor erzählt in seinem Regiedebüt eine erstaunliche Geschichte afrikanischer Selbsthilfe – und das auf eine angenehm zurückhaltende, niemals pathostriefende und gerade deshalb überzeugende Weise.