Coriolanus Snow ist die perfekte Hauptfigur!
Von Christoph PetersenAls Suzanne Collins im Jahr 2020 ein Prequel zu ihrer phänomenal erfolgreichen Young-Adult-Reihe „Die Tribute von Panem“ veröffentlichte, war längst klar, dass auch der neue Roman verfilmt werden soll. Allerdings ist „Das Lied von Vogel und Schlange“ (» bei Amazon*) das mit Abstand längste Buch der Reihe – und da ja auch schon der deutlich kürzere Roman „Mockingjay“ auf zwei Filme aufgeteilt wurde, hätte sich ein ähnliche Vorgehen womöglich auch diesmal angeboten. Aber wie uns Regisseur Francis Lawrence im FILMSTARTS-Interview verraten hat, kam eine Splittung von „Die Tribute von Panem – The Ballad Of Songbirds & Snakes“ für ihn gar nicht erst in Frage: „Das hätten wir machen können, aber wir haben so viel Mist dafür abbekommen, dass wir ‚Mockingjay‘ damals geteilt haben, dass ich gesagt habe: Auf keinen Fall machen wir da zwei Filme draus!“
Nachdem wir den Film nun gesehen haben, müssen wir sagen: Natürlich ist es schön, die gesamte Story in einem Aufwasch serviert zu bekommen – und trotzdem haben die auffälligsten Schwächen von „The Ballad Of Songbirds & Snakes“ überwiegend damit zu tun, dass gewisse Elemente trotz der imposanten Laufzeit von mehr als zweieinhalb Stunden schlichtweg zu kurz kommen. Dennoch entpuppt sich das 64 Jahre vor den Geschehnissen des ersten „Panem“-Bandes angesiedelte Prequel als eine der aufregendsten, weil ambivalentesten Blockbuster-Produktionen des Jahres – und das liegt vor allem an seinem Protagonisten: Der junge Coriolanus Snow ist eine faszinierend-abgründige Persönlichkeit, die von Newcomer Tom Blyth zudem brillant verkörpert wird.
Tom Blyth und Rachel Zegler führen einen durch die Bank großartigen Cast an!
Der 18-jährige Coriolanus Snow (Tom Blyth) lebt mit seiner Großmutter (Fionnula Flanagan) und seiner Cousine Tigris (Hunter Schafer) zwar in einem prestigeträchtigen Penthouse im Kapitol, aber der erste Eindruck trügt: Zwar war die Familie einst wohlhabend, doch seit dem Tod seiner Eltern fällt es Coriolanus zunehmend schwer, auch nur ausreichend Nahrung zu beschaffen. Auch seine feine Kleidung wird nur noch notdürftig zusammengehalten: So wahrt er als Student an der ehrwürdigen Academy zwar den Schein – aber wer genauer hinsieht, erkennt leicht, wie es um das Vermögen der altehrwürdigen Familie Snow tatsächlich bestellt ist. Deshalb ist es für ihn auch von fundamentaler Bedeutung, ein großzügiges Stipendium für die Universität zu bekommen.
Aber Pustekuchen – denn im letzten Moment werden die Regeln geändert: Statt für schulische Leistungen gibt es das Stipendium plötzlich für denjenigen, der als Mentor oder Mentorin bei den anstehenden zehnten Hungerspielen die beste Arbeit leistet. Coriolanus wird die aufmüpfige Sängerin Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) zur Betreuung bei dem alljährlichen Kolosseums-Kampf auf Leben und Tod zugeteilt. Allerdings ist die Aufgabe, der Mentor*innen nicht etwa, ihren Schützlingen zum Sieg (und damit zum Überleben) zu verhelfen. Stattdessen geht es ausschließlich darum, die zwangsrekrutierten Teilnehmenden dazu zu bringen, eine besonders quotenstarke Show abzuliefern…
Rachel Zegler ist als Katniss-Vorgängerin Lucy Gray Baird, die statt zum Bogen lieber zur Gitarre greift, auf mitreißende Weise rebellisch – und wenn die 22-Jährige darüber hinaus nicht auch noch verdammt gut singen könnte, hätte Steven Spielberg sie wohl kaum als Hauptdarstellerin für sein Musical-Remake „West Side Story“ ausgewählt. Aber das eigentliche Ereignis bleibt Tom Blyth („Billy The Kid“) als junger Snow – und das liegt längst nicht nur an seiner genialen blonden Perücke: Nachdem er schon als Kind während der Rebellion den Kannibalismus auf den verschneiten Straßen des Kapitols (gedreht in der Berliner Karl-Marx-Allee) miterleben musste, tut er nun alles, um den verblichenen Glanz seiner Familie wieder herzustellen.
So isst er selbst tagelang nichts, damit zumindest seine Cousine einen Apfel bekommt – und auch sonst wirkt er wie der typische Underdog, der sich mit Cleverness und Charme in der High Society durchmogelt, selbst wenn sich alles gegen ihn verschworen zu haben scheint. Es fällt extrem leicht, sich mit ihm und seinem Kampf zu identifizieren – und wenn er seine superreichen Mitschüler*innen oder den ihn offensichtlich auf dem Kieker habenden Dekan Casca Highbottom (Peter Dinklage) aussticht, dann möchte man fast applaudieren. Auch bei der sich andeutenden Liebelei mit Lucy drückt man die Daumen – selbst wenn Snow zwischendurch immer wieder Dinge tut, die zunehmend immer unverzeihlicher werden. Es gibt ja immer mal wieder Bösewichte, deren Schrecken gerade daher rührt, dass sie sich selbst ganz ehrlich für die Guten halten: Der junge Coriolanus Snow ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür!
Vor dem Beginn der Hungerspiele werden die Tribute erst mal in ein Zoogehege gepfercht – und Moderator Lucky Flickerman (Jason Schwartzman ) ist natürlich live dabei.
Im Gegensatz zum faszinierend-ambivalenten Snow legt Oscargewinnerin Viola Davis („Fences“) die Spielleiterin Dr. Volumnia Gaul als Archetyp eines Bond-Bösewichts an - inklusive eines Labors mit einem im Boden eingelassenen Becken voll tödlicher Fische sowie einem großen Glascontainer voll mit den titelgebenden Giftschlangen. Das macht definitiv Laune – ebenso wie die Performance von Jason Schwartzman („Asteroid City“) als Lucky Flickerman, der von Wettermann auf Hungerspiele-Moderator umgeschult hat. Im Gegensatz zu den perfekt durchinszenierten Auftritten von Stanley Tucci als Caesar Flickerman in der Panem-Trilogie stehen die Hungerspiele hier eben noch ganz am Anfang ihrer Pervertierung zum hochglänzenden Medienereignis.
Vergleicht man die 74. Hungerspiele aus „Die Tribute von Panem“ mit einer Produktion von „Deutschland sucht den Superstar“ im Jahr 2023, dann erinnern die 10. Hungerspiele aus „The Ballad Of Songbirds & Snakes“ tatsächlich eher an eine Spielshow aus den Anfangstagen des Fernsehens – inklusive Bildschirmen, die an Sci-Fi-Filme aus den 1950ern gemahnen. Und wo Caesar Flickerman die zum Kampf auf Leben und Tod antretenden Tribute zu ehrenvollen Kämpfer*innen hochjazzt, da begegnet ihnen sein Vorgänger Lucky noch mit Abscheu, Hass und Verachtung (fast wie in alten TV-Aufzeichnungen, wo der Alltagsrassismus ja auch häufig noch ganz selbstverständlich erscheint). So werden die Teilnehmenden vor Beginn der Hungerspiele erst einmal in einem Gehege des (Berliner) Zoos zum allgemeinen Begaffen ausgestellt.
Die Hungerspiele müssen sich als Medienereignis daher im zehnten Anlauf erst noch finden. Snow denkt sich die konkreten Regeln – ganz zur Begeisterung von Spielleiterin Gaul – sogar erst am Tag vor dem Start aus. Und tatsächlich wirkt dann auch vieles sehr beliebig zusammengeschustert: Das Zusammenwirken von Mentor*innen und ihren zwangszugeordneten Tributen ist – mit Ausnahme von Coriolanus und Lucy – nahezu nicht existent. Es gibt zwar Touchscreens, mit denen die Mentor*innen mit Publikumsspenden allerlei Hilfsmittel für ihre Tribute kaufen können, aber bei den drei Einsätzen, die wir im Film sehen, wird jedes Mal doch nur Wasser bestellt.
Statt in einem weitläufigen Areal wie in der Panem-Trilogie finden die Hungerspiele hier noch in einer engen Arena (mit der Fassade des Berliner Olympiastadions) statt. Damit das Töten trotzdem nicht schon nach maximal fünf Minuten vorbei ist, fliehen einige der Tribute durch ein in den Boden gesprengtes Loch in einen U-Bahn-Tunnel – nur um später ohne wirkliche Erklärung einfach wieder in die Arena zurückzukehren. Und auch sonst reicht die knappe Zeit für die eigentlichen Hungerspiele einfach nicht, um auch nur annähernd eine mit „Die Tribute von Panem“ oder „Catching Fire“ vergleichbare Dynamik zwischen den Kontrahent*innen aufzubauen.
Das TV-Set der zehnten Hungerspiele wirkt wie direkt aus einem Sci-Fi-Film der 1950er Jahre entliehen.
Stattdessen geht „The Ballad Of Songbirds & Snakes“ nach dem Abschluss der Hungerspiele noch eine ganze Stunde weiter: Im dritten und letzten Kapitel entwickelt sich der Film zu einem klassischen Rebellions-Melodrama, in dem im legendären Distrikt 12 (= Landschaftspark Duisburg-Nord) zwischen dem zum Besatzungssoldaten degradierten Snow und der Aufständischen Lucy eine verbotene Liebe aufkeimt, die auf beiden Seiten schnell weitere Todesopfer fordert.
Da steckt neben ganz tiefen Abgründen im Charakter der Hauptfigur eigentlich auch noch eine ganz große Tragik drin. Aber um diese voll auszuspielen, hätte Frances Lawrence wahrscheinlich doch über seinen Schatten springen und zwei Filme aus der Vorlage machen müssen…
Fazit: Coriolanus Snow ist eine grandios-vielschichtige Hauptfigur, die sogar noch spannender ist, als Katniss Everdeen es je war. Zugleich fühlt es sich aber so an, als sei „The Ballad Of Songbirds & Snakes“ an einigen Ecken einfach nicht auserzählt – und darunter leiden vor allem die 10. Hungerspiele, die in Sachen Spannung, Dynamik und Drama einfach nicht mit den bereits in „Die Tribute von Panem“ und „Catching Fire“ miterlebten Ausgaben 74 und 75 mithalten können.
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