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    So viel Zeit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    So viel Zeit

    Eine Liebeserklärung an Bochum und den Rock'n'Roll

    Von Antje Wessels

    Sex, Drugs und Rock-’n’-Roll kollidieren mit dem biederen Familienleben: In der Tragikomödie „So viel Zeit“ nach dem gleichnamigen Roman von Frank Goosen muss sich der todkranke Bassist Rainer die Frage stellen, ob er seine letzten Tage lieber mit seiner früheren Rockband auf der Bühne oder mit seiner kaputten Familie zu Hause verbringen will. Damit ist der Weg von Philipp Kadelbachs Kinofilmdebüt vorgezeichnet: Am Ende werden sich vermutlich alle versöhnlich in den Armen liegen, ganz gleich, wie sich Protagonist Rainer auch entscheiden wird. Doch wer Frank Goosens Bücher kennt, der weiß, dass die Story bei ihm nicht unbedingt das Wichtigste ist. Stattdessen begeistert meist sein hervorragendes Fingerspitzengefühl für feine Melancholie. Mit „Liegen lernen“, „Radio Heimat“ und „Sommerfest“ tauchte der aus Bochum stammende Goosen bereits tief in seine Heimat ein und fühlte dem Ruhrgebiet und seinen Bewohnern auf den Zahn. Zwischen romantischer Verklärung der Vergangenheit und dem authentischen Abbild der heutigen Zeit interessieren Goosen vor allem die Menschen. Und genau diese verleihen „So viel Zeit“ seinen ganz besonderen Charme, selbst wenn der Plot nicht immer ganz stimmig erzählt wird.

    Früher zählten Rainer (Jan Josef Liefers) und seine Band mal zu den ganz Großen. Doch seitdem der Bassist während eines Konzerts einen Streit mit seinem Musikerkollegen angezettelt hat, hat man von Bochums Steine nie wieder etwas gehört. Seither fristet Rainer ein ereignisarmes Leben. Seine Frau Brigitte (Jeanette Hain) hat ihn verlassen und sogar sein Sohn will nichts mehr von ihm wissen. Das alles ändert sich jedoch auf einen Schlag, als Rainer vom Arzt erfährt, dass er einen unheilbaren Hirntumor hat. Dieser bringt den einstigen Lebemann dazu, sein Dasein zu hinterfragen und sich auf das Wichtigste zu besinnen. Neben seinem Sohn sind das auch seine ehemaligen Bandkollegen. Doch mittlerweile leben Bulle (Armin Rohde), Konni (Matthias Bundschuh), Thomas (Richy Müller) und Ole (Jürgen Vogel) in alle Himmelsrichtigen verstreut. Deshalb beschließt Rainer, Bochums Steine wieder zu vereinen und sich nebenbei auch seinem Sohn wieder anzunähern. Aber vor allem Ole ist von der Comeback-Idee zunächst wenig begeistert…

    Die Figur des nicht-älter-werden-wollenden Rockmusikers wirkt in den Händen von „Tatort“-Star Jan Josef Liefers alles andere als abgenutzt. Im Gegenteil: Auf der einen Seite ist es sehr nachvollziehbar, weshalb sich seine Frau von ihrem unzuverlässigen Ehemann getrennt hat. Auf der anderen Seite wirken Rainers Bemühungen um seinen Sohn zwar ehrlich, zugleich ist es aber auch absolut plausibel, warum er es trotzdem immer wieder vergeigt. Die Tragikomödie zeigt vor allem zu Beginn auf authentische Weise einen Vater, der im emotionalen Zwiespalt zwischen der Liebe zu seiner Familie und der Liebe zu seiner Musik steht. Etwas aufgesetzt wirkt dagegen alles, was mit der Krebsdiagnose zu tun hat. Zwar ist diese für Rainer überhaupt erst der Anlass, sich und seinen Lebensstil zu hinterfragen, doch anstatt Auswirkungen auf den Tonfall des gesamten Films zu haben, greift das Skript von Stefan Kolditz die Krankheit immer nur dann auf, wenn es die Story gerade verlangt. Zudem nimmt die Geschichte stets ziemlich exakt die Wendung, die man erwartet. Überraschend kommt lediglich das Finale, für das der davor so melancholische Tonfall plötzlich einer von einem solchen Wohlfühlfilm unerwarteten Ambivalenz weicht.

    Doch selbst wenn das Skript sicherlich keinen Originalitätspreis gewinnt, sind es vor allem die kleinen Beobachtungen und Details wie etwa die authentischen Dialoge, die dafür sorgen, dass „So viel Zeit“ nie wie ein Aufguss von thematisch verwandten Filmen wie „Still Crazy“ wirkt. Zu diesem Eindruck tragen auch die Figuren bei. Die Besetzung von Jan Josef Liefers, Armin Rohde („Der bewegte Mann“), Matthias Bundschuh („Wir sind die Neuen“), Richy Müller („Die schwarzen Brüder“) und Jürgen Vogel („Stereo“) passt perfekt. Dass diese fünf Männer sich seit Jahrzehnten kennen, glaubt man ihnen sofort. Sie alle agieren vor der Kamera vollkommen natürlich und reden – dank der lebensechten Dialoge – ganz so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Wenn das Quintett schließlich zum ersten Mal seit Ewigkeiten gemeinsam wieder Musik machen, die sich obendrein auch noch als ohrwurmtauglich erweist, dürfte nicht nur gestandenen Rockmusikfans das Herz aufgehen.

    Frank Goosens „Liegen lernen“ spielt in Bochum und auch „Sommerfest“ ist eine ausdrückliche Liebeserklärung an die Stadt. Bochums Steine, wie die Band in „So viel Zeit“ heißt, ist ebenso eine Reminiszenz. Doch im Gegensatz zu den bisherigen Goosen-Verfilmungen steht die Großstadt im Ruhrpott diesmal nicht im Mittelpunkt. Hier geht es nicht darum, den typischen Menschenschlag dort zu porträtieren. Stattdessen stehen in „So viel Zeit“ vor allem um die fünf Bandmitglieder im Fokus, die ebenso gut auch aus jeder anderen deutschen Stadt stammen könnten, ohne dass es etwas an der Atmosphäre ändern würde. Umso gewiefter bringt Regisseur Philipp Kadelbach vereinzelte Elemente im Film unter, mit denen er sich dann doch wieder vor der Heimat des Buchautors verbeugt. Sei es die urgemütliche Spelunke der sympathischen Barfrau Steffi (Laura Tonke) oder die von „KeinOhrHasen“-Star Alwara Höfels bewohnte Wohnung, in der sie sich mit knochentrockener Attitüde ein verbales Kräftemessen mit Thomas liefert. Gerade in solchen Momenten ist „So viel Zeit“ trotz seiner bekannten Prämisse dann eben doch ein einzigartiger Film.

    Fazit: Nur wenig von Philipp Kadelbachs musikalischer Tragikomödie „So viel Zeit“ hat man nicht anderswo schon mal gesehen. Aber die starken Hauptdarsteller, die authentischen Dialoge und das detailreiche Lokalkolorit machen den Film dennoch sehenswert.

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