Wenn Schornsteinfeger über Sex sprechen
Von Jochen Werner„Oslo-Stories: Sehnsucht“ beginnt über den Dächern der titelgebenden norwegischen Hauptstadt, denn die Protagonisten dieses Films sind Schornsteinfeger. Anfangs sehen wir sie kurz ihr Tagwerk verrichten, in höchsten Höhen, doch nur aus einer gewissen Distanz. Zugleich scheint sich der Film des norwegischen Schriftstellers, Regisseurs und Bibliothekars Dag John Haugerud auch sehr für die Stadt selbst zu interessieren – für ihre Architektur, ihre Plätze, Baustellen, und vor allem ihre Straßen. Doch auch davon reißt sich „Sehnsucht“ rasch wieder los, und die äußerst eigenwillige, ausdrucksstarke Kamera von Cecilie Semac zoomt auf ein Fenster zu. In einer Art Pausenraum, einem seltsam anonymen, leeren Zwischenort, treffen wir die beiden namenlosen Protagonisten – den Schornsteinfeger (Jan Gunnar Røise) und seinen Vorgesetzten (Thorbjørn Harr) – wieder.
Die beiden sind in ein Männergespräch vertieft, das vom durch den alten und neuen US-Präsidenten sprichwörtlich gewordenen „Locker Room Talk“ allerdings kaum weiter entfernt sein. Auf die Schilderungen eines wiederkehrenden Traums seines Vorgesetzten, in dem dieser David Bowie begegnet und der ihn ansieht, als sei er eine Frau, entgegnet der Schornsteinfeger, er habe gestern zum ersten Mal in seinem Leben Sex mit einem Mann gehabt. Schwul sei er trotzdem nicht, er habe schließlich nie zuvor daran gedacht, mit einem Mann ins Bett zu gehen, und er habe auch nicht vor, es wieder zu tun. Nur in diesem speziellen Augenblick sei es ihm als eine gute Idee erschienen, und sehr schön sei es überdies auch noch gewesen. Ganz begeistert habe er auch seiner Frau von diesem Erlebnis erzählt.
Es ist ein erstaunlich offenes, intimes und vertrauensvolles Gespräch, das die beiden befreundeten Arbeitskollegen hier miteinander führen – ein Gespräch, wie es sein könnte, wenn es all die Erwartungshaltungen und Rollenbilder nicht gäbe, die wir in unserer Gesellschaft mit heterosexueller Männlichkeit verbinden. Ein Gespräch, das einer leider noch nicht realisierten Welt angehört, in der wir uns alles sagen können, im Vertrauen, dass die, denen wir uns anvertrauen, uns Gutes wollen und um Verständnis bemüht sind.
Aber so einfach und schön, wie es sich der Schornsteinfeger – auch zur Verwunderung seines Freundes – ganz selbstverständlich vorgestellt hat, läuft es dann natürlich doch nicht. Seine Frau reagiert irritiert und verletzt auf die vermeintlich freudige Nachricht – und versteht die Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit nicht, mit der ihr Gatte ihr von seinem spontanen außerehelichen Erlebnis mit einem Kunden erzählt. Und während sie mit der Frage ringt, was nun zu tun ist, und sogar eine Scheidung erwägt, versucht er zunehmend verzweifelt, ihr zu erklären, dass er gar nicht auf die Idee gekommen sei, sie könne dieses Ereignis, das doch gar nichts mit ihr und ihrer Liebe füreinander zu tun habe, als Betrug an ihrer Ehe begreifen.
Es wird etliches besprochen in diesem Film, denn auch der Kollege des Schornsteinfegers und dessen Sohn bekommen noch eine ganze Reihe eigener Handlungsstränge, in denen unter anderem der christliche Glaube, ein Kühlschrank, eine verletzte Hand, ein Hautausschlag sowie das Pro und Contra der Verarbeitung des Alltags in einem eigenen YouTube-Channel eine Rolle spielen. Das ist häufig verblüffend ehrlich und genauso oft saukomisch. Und dann ist da noch diese Abschweifung in Schwarz-Weiß, eine kleine, von einer Ärztin erzählte Geschichte über ein schwules Architektenpaar und ein Frank-Lloyd-Wright-Schultertattoo, die ganz anders ausgeht als erwartet: Die erwartete Moral von der Geschicht‘ wird verweigert, weshalb das Intermezzo dann doch wieder ganz hervorragend als Spiegelbild für die Protagonisten dieses wundervollen Films funktioniert. Ja, doch: „Oslo-Stories: Sehnsucht“, dessen norwegischer Originaltitel übrigens deutlich prosaischer und treffender „Sex“ lautet, ist ein dialoglastiger Film.
Aber das heißt keineswegs, dass er formlos wäre oder sich für seine visuelle Ebene nicht interessieren würde. Ganz im Gegenteil: „Oslo-Stories: Sehnsucht“ ist nämlich auch ein Stadtfilm, ein Architekturfilm, der sich für Oslo auch aus der immer etwas abstrakten Perspektive eines Stadtplaners interessiert. Das Leben ist eine Baustelle, und eine Hauptverkehrsstraße in diesem Film. Immer wieder überragen Kräne die Hochhausdächer, sind Orte noch im Entstehen, der allgegenwärtige Straßenverkehr rauscht im Hintergrund stetig vorüber und klingt wie Meeresrauschen. Und wirklich alle Straßen, die im Vorder- oder Hintergrund durch die überaus sorgfältig kadrierten Einstellungen dieses Films verlaufen, schlagen Kurven.
Die Art, wie Stadtarchitektur hier aus der Rolle als bloßer Hintergrund für Geschehen und Diskurs herausgelöst und zum gleichwertigen Thema von „Oslo-Stories: Sehnsucht“ erhöht wird, erinnert ein wenig an die jüngste Werkphase des deutschen Experimentalfilmregisseurs Heinz Emigholz. Über anderthalb Jahrzehnte hatte der einen etliche Filme umfassenden Zyklus minimalistischer, wortloser Architekturfilme inszeniert – bis er die dafür entwickelten filmischen Strategien in „Streetscapes [Dialogue]“ für einen sprachgewaltigen Dialogfilm verwendete, der grundsätzlich im Dokumentarischen verwurzelt blieb und gleichwohl eine verschroben abstrakte und sich durch und durch neuartig anfühlende Form entwickelte.
Und auch Dag John Haugerud ist einer dieser Regisseure, die alle paar Jahre einmal im Kino auftauchen und den Eindruck vermitteln, dass hier jemand etwas ganz Neues macht. Dass da jemand Filme macht, wie man sie so noch nicht gesehen hat, und einen ganz eigenen Blick auf die Welt darin zum Ausdruck bringt. Und wenn ein solch seltener Fall einmal eintritt, dann gibt es eigentlich nichts, was einen glücklicher zu machen vermag im Kino. Im Falle Haugerud ließ diese Entdeckung schon viel zu lang auf sich warten, macht der Norweger doch schon seit mehr als zwei Jahrzehnten Filme – kurze, halblange und überlange, experimentelle und narrative, oft auch auf irgendeine Weise literarische Filme, die es allesamt nicht ins deutsche Kino geschafft haben.
Ein junger, talentierter Nachwuchsregisseur ist er zudem mit 60 Jahren ganz sicher nicht mehr. Umso schöner und wichtiger, dass mit seiner in Deutschland etwas plump mit „Oslo Stories“ betitelten Trilogie um „Sex/Träume/Liebe“ jetzt mit „Oslo-Stories: Liebe“ (17. April), „Oslo-Stories: Träume“ (8. Mai) und „Oslo-Stories: Sehnsucht“ (22. Mai) gleich drei Filme von Haugerud in kurzer Folge in Deutschland erscheinen – wenn auch in falscher Reihenfolge, denn tatsächlich handelt es sich beim zuletzt ins Kino gebrachten „Sehnsucht“ um den ersten Film der Trilogie.
Fazit: Ein durch und durch humanistisches Werk, dessen Filmsprache zwischen verschrobenem Humor und avantgardistischer Verspieltheit eine ganz eigene Form entwickelt. „Oslo-Stories: Sehnsucht“ eröffnet eigentlich die Trilogie über „Sex/Träume/Liebe“, schließt sie in der deutschen Kino-Veröffentlichungsreihenfolge jedoch ab – und ist in jeder Reihenfolge einer der schönsten und klügsten und berührendsten und originellsten Filme, die man derzeit im Kino sehen kann!