Die Geschichte hinter dem Syndrom
Von Oliver KubeFast jeder dürfte schon mal vom sogenannten Stockholm-Syndrom gehört haben. Der Begriff umschreibt die Situation, wenn das Opfer einer Geiselnahme oder eines Kidnappings irrationale positive Gefühle für seinen Entführer entwickelt und mit dem Täter oder den Tätern nicht nur zu sympathisieren beginnt, sondern eventuell sogar aktiv kooperiert. Im August 1973 gab es etwa in der schwedischen Hauptstadt einen Banküberfall, bei dem vier Angestellte als Geiseln genommen wurden. Im Laufe der fünf Tage andauernden Verhandlungen zwischen den Verbrechern und den Behörden zeigte sich, dass die Geiseln ab einem gewissen Zeitpunkt größere Angst vor der Polizei als vor ihren eigenen Geiselnehmern hatten.
Nachdem die Täter schließlich festgenommen werden konnten, baten die Opfer vor Gericht um Gnade für die Bankräuber und besuchten sie später sogar im Gefängnis. Dieser dem psychologischen Phänomen zugrundeliegende Kriminalfall ist mittlerweile offenbar schon wieder obskur genug, dass er inzwischen als Grundlage für ein das Kinopublikum tatsächlich überraschendes Krimi-Drama dienen kann. So zumindest der Plan von Robert Budreau („Born To Be Blue“). Der kanadische Regisseur schrieb ein streckenweise stark fiktionalisiertes Drehbuch und engagierte für „Stockholm“ mit Ethan Hawke zudem einen glaubhaft charismatischen und einnehmenden Bankräuber.
Volle Kanne Siebziger!
Mit einer Maschinenpistole und Transistorradio bewaffnet stürmt Lars Nystrom (Ethan Hawke) in die Stockholmer Filiale der Kreditbanken. Alle Kunden und Angestellten werfen sich panisch auf den Boden. Nur Kassiererin Bianca Lind (Noomi Rapace) drückt geistesgegenwärtig auf den Alarmknopf, der die binnen kürzester Zeit mit einem riesigen Aufgebot antretende Kripo unter der Leitung des lokalen Polizeichefs Mattsson (Christopher Heyerdahl) herbeiruft. Anstatt gewalttätig zu werden, freut sich der Räuber über die Initiative der jungen Mutter und lobt sie ausdrücklich. Und das ist nicht die einzige seltsame Aktion des in den USA aufgewachsenen Einheimischen. So lässt er bis auf Bianca und zwei Kollegen alle anderen unversehrt gehen. Danach fordert er die Freilassung seines Freundes Gunnar Sorensson (Mark Strong) aus dem Gefängnis plus einen Ford Mustang, wie ihn Steve McQueen in „Bullit“ gefahren hat. Der über die Situation informierte Ministerpräsident Olof Palme (Shanti Roney) ordnet allerdings an, dass Nystrom und der von Vollzugsbeamten mittlerweile in die Bank gebrachte Sorensson das Gebäude auf keinen Fall als freie Männer verlassen dürfen ...
Geht man als Zuschauer unvorbereitet und ohne größere Kenntnis der realen Geschehnisse an den Film heran, könnte man in den ersten Minuten fast auf die Idee kommen, dass man sich da gerade eine Komödie ansieht: Die von Ethan Hawke („Training Day“) mit Gusto interpretierte Figur des Gangsters tritt mit schwarzer Lederkluft, Cowboyhut, struppiger Langhaarperücke und einem fetten Schnauzer derart überdreht extrovertiert auf, dass sie nicht nur sofort als weiteres Mitglied der Village People durchgehen würde, sondern auch der Verdacht naheliegt, er wolle mit dem Banküberfall womöglich nur einen Scherz machen. Aber so waren halt die Siebziger - und nachdem in „Stockholm“ selbst einige langweilige Polizisten und Bankangestellte aussehen, als würden sie in einer Hippiekommune leben, gewöhnt man sich schnell an das Outfit und kauft Nystrom auch seine Obsession für Bob Dylan ab.
Den Filmemachern stand dabei für ihr vom Studio-System unabhängig realisiertes Werk trotz der Produzenten-Beteiligung von Hollywood-Mogul Jason Blum („Get Out“, „Glass“, „Halloween“) leider recht offensichtlich kein allzu großes Budget zur Verfügung. Deshalb konnte Robert Budreau statt an Originalschauplätzen auch nur im kanadischen Hamilton drehen. Aber so verlässt er sich eben komplett auf die Überzeugungskraft seiner Schauspieler, um zu zeigen, wie ein Kriminalitätsopfer zum willentlichen Komplizen mutieren kann. Neben dem an seiner exzentrischen Figur sichtlich Spaß habenden Hawke sind die im Gegensatz zu ihm viel gradliniger und nüchterner auftretenden Noomi Rapace („Verblendung“) und Mark Strong („Shazam!“) die größten Trümpfe des finanziell an der kurzen Leine gehaltenen Regisseurs.
So ist die stärkste und erinnerungswürdigste Szene dann auch nicht etwa eine Schießerei, sondern ein visuell eher unauffälliger, nicht allzu langer Moment: In diesem nimmt Nystrom Bianca zur Seite und weiht sie in seinen Plan ein, wie er die Geiselnahme unblutig beenden und trotzdem entkommen will. Hier, in einer schmalen Nische des Bankgebäudes, stehen sich beide Figuren dicht gegenüber und Kameramann Brendan Steacy („Coconut Hero“) filmt sie fast ausschließlich von der Brust an aufwärts, was den klaustrophobischen Aspekt sogar noch verstärkt. Hawke und Rapace vermitteln in dieser beengten Situation glaubhaft, wie sich in diesen Minuten eine Verbundenheit, eine Art Zweckgemeinschaft zwischen ihren Figuren entwickelt und warum Bianca schließlich beschließt, Nystrom zu helfen.
Einerseits natürlich, weil sie seine Idee für die sicherste hält, um ihr eigenes und das Leben ihrer Kollegen zu schützen. Andererseits aber auch, weil sie merkt, dass Nystrom vielleicht ein unberechenbarer Emotionsbolzen, aber längst kein so gewissenlos brutaler Kerl ist, wie er von der Polizei über die Kanäle der aus ganz Europa herbeigeeilten Medien dargestellt wird. Fast erwartet man am Ende dieser so intensiv-intimen Sequenz einen Kuss oder sogar noch mehr – so greifbar ist die Chemie zwischen den Schauspielern und ihren Charakteren. Zumal Bianca irgendwann beginnt, sich ihrer Jacke und ihrer Bluse zu entledigen, während sie ihrem Gegenüber geradewegs in die Augen schaut. Doch die Mutter und Ehefrau will einfach nur heim zu ihrer Familie und der Grund für das Entkleiden ist in Wahrheit ein ganz anderer ...
Keine Sorge, die Autoren haben trotz solcher Poster keine unpassende Liebesgeschichte in ihr Krimi-Drama geschmuggelt.
Auch Mark Strong darf endlich mal wieder einen vielschichtigen Part verkörpern, nachdem der talentierte Brite zuletzt doch sehr oft einfach nur den hochintelligenten, aber abgrundtief bösen Antagonisten mimen musste (was er in den meisten Fällen dennoch ganz hervorragend getan hat). Wie Nystrom können auch wir Zuschauer uns bis fast zum Ende nie ganz sicher sein, auf wessen Seite Strongs Figur wirklich steht. Hält er zu seinem Jugendfreund und ehemaligen Zellennachbarn? Oder macht er gemeinsame Sache mit den Cops, um vorzeitig entlassen zu werden und vielleicht sogar noch ein schönes Belohnungssümmchen einzustreichen? Die stichelnden Bemerkungen des cleveren Polizeichefs Matthison legen den Verdacht jedenfalls nahe. Eine Ambivalenz, die viel zur kontinuierlich angespannteren Atmosphäre im Inneren des Gebäudes beiträgt.
Fazit: Mit einem höheren Budget hätte Robert Budreau sicherlich auch inszenatorisch noch deutlich mehr rausholen können, so erreicht „Stockholm“ visuell gerade einmal etwas besseres TV-Niveau. Aber auch wenn der Film als Charakterdrama sicherlich längst nicht an den Genre-Primus „Hundstage“ von Sidney Lumet herankommt, erweisen sich die drei gutaufgelegten Stars und die den Zuschauer von Anfang an emotional einbeziehende und zumindest in Grundzügen wahre Geschichte doch als Stärken, die das Krimi-Drama trotz seiner Schwächen sehenswert machen.