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    Lucky
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Lucky
    Von Michael Meyns

    Leinwandfüllend liest man am Anfang von John Carroll Lynchs Debütfilm „Lucky“: „Harry Dean Stanton is Lucky“ und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Zwar spielt Stanton tatsächlich eine Figur namens Lucky, einen alternden Mann, der in einem Wüstenkaff seiner täglichen Routine nachgeht, doch diese Figur ist zugleich unübersehbar eine Variation des am 15. September 2017 im Alter von 91 Jahren verstorbenen Stanton selbst. Oder noch präziser gesagt: Lucky ist eine Variation von dem Typ Mann, den der Schauspieler Stanton seit vielen Jahren auf der Leinwand dargestellt hatte, was das melancholische Drama „Lucky“ zum wunderbaren Schlusspunkt einer bemerkenswerten Karriere macht, die erst im hohen Alter so richtig begann.

    Irgendwo in einem Wüstenkaff im amerikanischen Südwesten lebt Lucky (Harry Dean Stanton) allein in einem kleinen Haus. Tag für Tag verrichtet der alte, aber noch rüstige Mann die gleichen Tätigkeiten, macht morgens ein paar Yoga-Übungen, frühstückt im Diner, kauft Zigaretten, schaut Quizsendungen im Fernsehen und trinkt abends eine Bloody Mary in seiner Stammbar. Das Alleinsein stört Lucky nicht, denn er ist nicht einsam. Nach einem kurzen Schwächeanfall beginnt er, sich Gedanken über sein unweigerlich nahendes Ende zu machen und fragt sich, ob das Leben vielleicht doch mehr ist als ein großes Nichts.

    Logan Sparks und Drago Sumonja haben ihr Drehbuch schon mit Harry Dean Stanton im Hinterkopf geschrieben und ohne Stanton wäre dieser Film in der Tat kaum denkbar, zumindest nicht in dieser Form, so sehr drückt der Schauspieler ihm seinen Stempel auf. Dank Stanton ist „Lucky“ mehr als ein gewöhnlicher Spielfilm, dank seiner besonderen Qualitäten scheinen Fiktion und Realität zu verschmelzen. Kaum ein Darsteller ist auf so unmittelbare Weise auf der Leinwand präsent wie er, kaum einer wirkt so authentisch und unangestrengt. Es ist, als wäre Stanton vor der Kamera tatsächlich einfach nur er selbst.

    Stanton war nie ein Schauspieler, der sich in seine Rollen versenkte. Er war kein Method-Actor, der sich verwandeln konnte, sondern spielte eigentlich immer Variationen seiner selbst. Jahrelang war er ein sogenannter bit-player, musste sich mit kleinen und kleinsten Rollen begnügen. Er trat in unzähligen TV-Serien auf, bevor er Mitte der 60er Jahre, als er schon gut 40 Jahre alt war, immer häufiger im Kino zu sehen war, unter anderem in einem unvergesslichen Auftritt in Ridley Scotts „Alien“. Doch erst mit Wim Wenders' 1984 gedrehtem „Paris, Texas“ wurde Stanton zu so etwas wie einem Star, zu einem unverwechselbaren Typ. Sein lebenserfahrenes Charaktergesicht wirkte in Mainstream-Filmen eher fehl am Platz, wurde dafür von Regisseuren wie David Lynch, mit dem Stanton seit „Wild At Heart“ bis hin zur „Twin Peaks“-Fortsetzung regelmäßig zusammenarbeitete, besonders geschätzt.

    Lynch hat in „Lucky“ selbst eine kleine Rolle, ist einer von vielen eigentümlichen Typen, mit denen Lucky nicht wirklich befreundet ist, die aber einfach ein Teil seines Lebens sind. Unaufgeregt, beiläufig und anekdotisch erzählt uns das der als Schauspieler durch Filme wie „Fargo“ oder „Shutter Island“ bekannte John Carroll Lynch in seinem ersten Film als Regisseur und zeigt dabei ein erstaunliches Gespür für Timing und Atmosphäre. Kaum 90 Minuten lang ist die Geschichte, genau richtig für einen Film, in dem es gleichermaßen um nichts und um alles geht.

    Rein äußerlich betrachtet passiert hier kaum etwas, man sieht Lucky am Anfang und Ende exakt die gleichen Dinge tun, dem exakt gleichen Tagesablauf folgen. Doch dazwischen erlebt er – durch einen kleinen Schwächeanfall, der von seinem auch nicht mehr jungen Arzt nur mit den Worten diagnostiziert wird: „Du wirst alt!“ – so etwas wie eine Epiphanie. Durch den Moment der Schwäche aus seinem Alltagstrott gerissen, mit der unaufhaltsamen Frage nach der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, hinterfragt Lucky sein Leben, seine Existenz, sein Alleinsein, das möglicherweise freiwillig ist, vielleicht aber auch nicht. Doch was kann man dem Tod entgegensetzen? Ein Lächeln ist die Antwort und so verabschiedet sich Lucky, verabschiedet sich Harry Dean Stanton mit einem Lächeln aus dem Film und in seinem letzten großen Leinwandauftritt aus dem Leben.

    Fazit: Mit „Lucky“ hat John Carroll Lynch nicht nur einen bemerkenswerten Debütfilm vorgelegt, sondern dem inzwischen verstorbenen Harry Dean Stanton auch einen wunderbaren Abschied nach einer langen, abwechslungsreichen Karriere geschenkt.

    Wir haben „Lucky“ beim Filmfest Hamburg 2017 gesehen, wo er zur Eröffnung lief.

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