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    Leanders letzte Reise
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Leanders letzte Reise
    Von Thomas Vorwerk

    Jürgen Prochnow, einst Deutschlands schauspielerischer Vorzeige-Kino-Export („Das Boot“, „Air Force One“), denkt noch lange nicht an den Ruhestand und ist in den vergangenen Jahren aktiv wie lange nicht mehr. Nach Auftritten in Atom Egoyans „Remember“, in der Videospielverfilmung „Hitman: Agent 47“ und in dem Thriller-Drama „Die dunkle Seite des Mondes“ spielte der 1941 in Berlin geborene Star Anfang 2017 in Robert Thalheims Ost-West-Komödie „Kundschafter des Friedens“ einen knorrigen alten Geheimdienstrecken - eine Rolle, die ihm wie auf den Leib geschneidert war. Ein ganz anderes Register zeigt der erfahrene Darsteller nun im Vergangenheitsbewältigungs- und Familiendrama „Leanders letzte Reise“ von Regisseur Nick Baker-Monteys („Der Mann, der über Autos sprang“). Prochnow schlüpft in die Haut des 92-jährigen Titelhelden, der auf dem Weg von Deutschland in die ehemalige Sowjetunion auch einen Trip in seine eigene Vergangenheit unternimmt. Der ambitionierte erzählerische Brückenschlag vom Zweiten Weltkrieg hin zur krisengeschüttelten (Fast-)Gegenwart des Ukraine-Konflikts gelingt allerdings nur teilweise überzeugend.

    Ukraine 2014: Ein Auto fährt durch eine leere verregnete Landstraße mit Schlaglöchern. Ein schnauzbärtiger Mann sitzt am Steuer, auf dem Beifahrersitz sieht man eine verheulte Frau, quer über den Rücksitz liegt Eduard Leander (Jürgen Prochnow). Vielleicht schläft er, vielleicht ist er aber auch tot. Etwa zehn Tage zuvor: Hilde, die Frau des 92-jährigen Eduard, ereilt ein sanfter Tod vor der Flimmerkiste. Nach der Beerdigung („Der Leichenschmaus fällt aus, ihr könnt nach Hause gehen!“) zieht es den Witwer in Richtung Ukraine, wo er einst als Wehrmachtsoffizier mit einem Kosaken-Korps gegen die Rote Armee kämpfte. Eduards Tochter Ulrike (Suzanne von Borsody, „Hannas Reise“, „Lola rennt“) schickt die Enkelin Adele (Petra Schmidt-Schaller, „Stereo“, „Sommer in Orange“), um den betagten Herrn aufzuhalten. Doch die Kellnerin mit dem abgebrochenen Studium begleitet den wortkargen Opa schließlich auf seiner Reise…

    Regisseur und Drehbuchautor Nick Baker-Monteys hat sich viel vorgenommen: Er erzählt nicht nur die Geschichte einer Familie über drei Generationen hinweg und gibt ihr einen komplexen historischen Hintergrund, sondern parallelisiert die alten Konflikte auch noch mit der aktuellen politischen Situation. Das wirkt manchmal etwas gewollt, ist letztlich aber zugleich der größte Reiz dieses Films. Die sorgfältig recherchierte historische Unterfütterung wirft ein aufschlussreiches Licht auf die verfahrene Situation in der Ukraine seit 2014, in der die Einheimischen ganz individuell vor extrem schwierigen Entscheidungen stehen – so wie Adeles Zugbekanntschaft Lew (gespielt vom Esten Tambet Tuisk, bekannt aus „Poll“), ein in der Ukrainer geborener Russe, der zwischen seinem westlichen Lebensstil und seinen russischen Wurzeln hin- und hergerissen ist.

    So sehr die dramaturgische Verknüpfung zwischen der Vergangenheit Leanders und der Zukunft der Liebe zwischen Adele und Lew im Entwurf überzeugt, so wenig gelingt die Ausgestaltung im Detail. So wird Leanders Enkelin sehr stark auf ihre erzählerische Funktion reduziert: Zunächst interessiert sich die Kellnerin gar nicht für Politik, aber dann stellt sie plötzlich dem Opa lauter Fragen über die Kosaken und will von ihrem Liebhaber Lew zugleich alles über die gegenwärtige Krise wissen. So wird das Publikum auf etwas durchsichtige und unelegante Weise mit Grundinformationen versorgt, zu der zuvor eingeführten Figur passt dies Verhalten indes nicht so recht und der Sinneswandel wird nicht nachvollziehbar gemacht. Und ähnliche erzählerische Unschärfen prägen die gesamte Geschichte der inzwischen zusammengeschrumpften und zerrütteten Drei-Generationen-Familie von Adele, Ulrike und Eduard.

    Im Verlauf des Films erfährt man den zentralen Grund für die familiären Spannungen: Die Ehe von Eduard und Hilde war ein liebloses Arrangement – es wird kolportiert, dass keiner der beiden je lächelte. Während sich zwar herauskristallisiert, warum sich Adele, ihre fast nur in Telefonaten präsente Ulrike und der Opa in ihrer Gefühlskälte ähneln, erfährt man über die 60 Jahre seit dem Krieg nahezu gar nichts. Die Familie bekommt nie ein erzählerisches Fundament, die Details ergeben kein stimmiges Ganzes. Und auch über Jürgen Prochnows Titelfigur, die frisch verwitwet der verlassenen Jugendliebe Swetlana nachreist, kommen nur punktuell echte Emotionen ins Spiel, obwohl der Star auch hier durchaus zeigt, dass ein echter Charakterdarsteller in ihm steckt. Aber zum einen nimmt man dem rüstigen Siebziger den greisen Neunziger nicht wirklich ab, was vor allem am nicht überzeugenden Alters-Make-Up liegt, und zum anderen wird ihm das Material nicht gerecht. Denn die bemüht wirkende Inszenierung mit ihren Drohnenbildern und einigen ausgestellten „Bravourstücken“ wie der Zugfahrt im Zentrum verstärkt noch den Eindruck einer nie wirklich lebendig erscheinenden Kopfgeburt.

    Fazit: Die im Ansatz spannende Mischung aus Familiengeschichte und Historiendrama bleibt zu schematisch in Erzählweise und Inszenierung, um wirklich mitzureißen.

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