Mit Klischees gegen die Selbstbezogenheit unserer Zeit
Von Thorsten HanischEs ist kein Geheimnis, dass INDIVIDUALISMUS inzwischen ganz großgeschrieben wird. Für diejenigen mit Möglichkeiten mag das ja auch eine gute Sache sein. Aber Schwächere haben es so oft auch noch schwerer. Selbst die eigene Familie reagiert auf Problemfälle (Alter, Behinderungen, …) immer öfter mit Einweisungen in die entsprechenden Institutionen. Das hat nicht immer nur etwas mit Überforderung, sondern mitunter auch einfach mit Bequemlichkeit zu tun. Man leidet schon mit, aber sich um andere zu kümmern, heißt eben immer auch, selbst zurückstecken, Energie und Zeit zu investieren, die einem dann für die Selbstverwirklichung fehlen. Das ist auch das zentrale Dilemma in „Idioten der Familie“. Dabei will Regisseur und Co-Drehbuchautor Michael Klier („Alter und Schönheit“) seinen Finger ganz tief in die Wunde bohren, geht aber gerade bei der Zeichnung seiner Figuren derart grob und platt zur Sache, dass er doch nur an der Oberfläche haften bleibt.
Die 26-jährige Ginnie (Lilith Stangenberg) ist geistig behindert und wird von ihrer älteren Schwester Heli (Jördis Triebel) seit Jahren im idyllischen Familienheim am Rande Berlins gepflegt. Doch Heli, eine verhinderte Künstlerin, hat genug davon und will nun mit Vierzig ein neues, eigenes Leben beginnen. Ginnie soll deshalb ins Heim gegeben werden. Zuvor wollen die drei egozentrischen Brüder Bruno (Florian Stetter), Tommie (Hanno Koffler) und Frederik (Kai Scheve), die Heli nie eine Hilfe waren, aber erst noch etwas Zeit mit dem Nesthäkchen verbringen, das auf den ersten Blick zwar normal wirkt, aber so ganz anderes und vor allem unberechenbar ist. Ein turbulentes Wochenende steht bevor, bei dem so mancher verborgener Konflikt zwischen den Geschwistern wieder offen hervorbricht …
Wohin mit Ginnie? Heli (Jördis Triebel) und Bruno (Florian Stetter) mit ihrer Schwestern (Lilith Stangenberg).
„Idioten der Familie“ stellt schon in seinem Titel die zentrale Frage: Wer sind denn nun diese Idioten in der Familie? Ein wenig überraschender Spoiler: Ginnie, die sich zwar abseits aller Normen bewegt, letztendlich aber nur so handelt, wie sie handelt, weil sie nicht anders kann, gehört jedenfalls nicht dazu. Daran lässt der Film nie einen Zweifel. Die titelgebenden Idioten sind vielmehr die vermeintlich Normalen, denen alle Möglichkeiten offenstehen, die aber mit ihrer mangelhaften Kommunikationsunfähigkeit, ihrer Selbstbezogenheit und ihrem zum Teil mehr als fragwürdigen Verhalten gegenüber ihrer Schwester nicht gerade das beste Bild abgeben. Da kommt dann schon die Frage auf, wieso gerade sie sich das Recht herausnehmen, über das Schicksal eines anderen Menschen einfach so zu entscheiden.
Eine grundsätzlich spannende Prämisse, die sogar ein wenig an dem oscarprämierten Klassiker „Einer flog über‘s Kuckucksnest“ mit Jack Nicholson erinnert. Auch darin bezieht Miloš Forman klar Stellung für die „Unnormalen“, also all diejenigen, die aus dem gesellschaftlichen Rahmen fallen. Aber es geht dem „Amadeus“-Regisseur eben nie nur darum, einen Punkt zu machen, stattdessen erzählt er mit klar konturierten Charakteren eine Geschichte, die auch ohne die zugrundeliegende Agenda genauso gut für sich stehen könnte. Michael Klier schwebt hingegen ganz Großes vor, denn es geht ihm laut Eigenauskunft „nicht nur um ein großes moralisches Dilemma, sondern um den destruktiven Egoismus und die lähmende Bequemlichkeit moderner westlicher Menschen.“
Es soll der gesamten westlichen Welt der Spiegel vorgehalten werden und dieser Anspruch überlagert den ganzen Film. Bruno, Tommie, Frederik und Heli sind weniger Figuren als vielmehr Platzhalter für bestimmte Typen in unserer Gesellschaft: Bruno ist der aufgeklärte Gutmensch, der nach Afrika gehen und Bildungsprojekte verwirklichen will, aber letztendlich schon mit der eigenen Schwester überfordert ist. Tommy repräsentiert den locker-lässigen Lebemann mit einem permanenten ironischen Blitzen in den Augen, aber kaum Geld auf dem Konto. Frederik wiederrum verkörpert das Klischee das wohlhabenden, aber verbissenen Arbeitstiers, an dem das Leben einfach so vorbeizieht. Heli steckt in der Midlife-Crisis und will auch einfach mal „für sich sein“. Wesentlich mehr erfährt man nicht, die Figuren kommen nicht über den Status von Schablonen hinaus.
Es gibt zwar zwei Szenen, die Untiefen andeuten, so erhält das Verhältnis zwischen Bruno und Heli eine annähernd inzestuöse Färbung und auch Frederik nähert sich Ginnie plötzlich auf unangebrachte Weise. Allerdings muten beide Momente wie kurze Ausrutscher in einem ansonsten oberflächlich gehaltenen Geplänkel an. Klier ist bemüht, seinen Film so unverfänglich wie möglich zu halten und gewinnt der Figurenkonstellation so kaum eine innere Spannung ab. Zumal sich die vier ohnehin von Anfang an relativ einig sind, dass Ginnie ins Heim soll. Selbst Bruno, der erst noch großspurige Ansprachen hält, dass man unter anderem am „Umgang mit den Schwächeren die Werte einer Gesellschaft erkennt“ schwenkt schnell um, als er merkt, dass die Handhabung seiner Schwester doch nicht ganz so leicht ist.
Haben Spaß: Tommie (Hanno Koffler) und Ginnie (Lilith Stangenberg).
Man verliert jedenfalls schnell das Interesse an diesem mit dem ganz groben Pinsel gezeichneten Quartett und eigentlich könnte man das unspektakulär inszenierte Drama auch ganz zu den Akten legen, wenn da nicht die wunderbare Lilith Stangenberg („Die Lügen der Sieger“) in der Rolle der Ginnie wäre. Stangenberg liefert eine nuancierte, jederzeit glaubwürdige Vorstellung und kriegt von Klier auch mal den einen oder anderen ruhigen Solo-Moment spendiert. In diesen deutet sie allein mit Blicken und Gesten an, dass in ihren vermeintlich irrationalen Handlungen womöglich stets auch eine verschlüsselte Botschaft mitschwingen könnte. Es sind solche Szenen, die ahnen lassen, was für ein wunderbarer Film „Idioten der Familie“ auch hätte werden können.
Fazit: „Idioten der Familie“ will dem Über-Individualismus der heutigen Zeit den Spiegel vorhalten und das ist sicherlich alles andere als verkehrt. Nur scheitert das eherne Vorhaben an einem mutlosen, an der Oberfläche verhafteten Drehbuch, das jegliches Interesse innerhalb kürzester Zeit auf ein Minimum zusammenschrumpfen lässt. Einzig Lilith Stangenbergs Glanzvorstellung als geistig behinderte Ginnie rettet das langweilige Geschehen vor dem totalen Absturz.