Asghar Farhadi ist bekannt für seine präzise beobachteten Beziehungsdramen wie das mit dem Goldenen Bären der Berlinale und dem Oscar für den Besten nicht-englischsprachigen Film ausgezeichnete Meisterwerk „Nader und Simin – Eine Trennung“ (2011). Aber warum zum Teufel kommt dann in gefühlt jedem zweiten Text über den iranischen Filmemacher die Sprache auf den Master of Suspense Alfred Hitchcock? Ganz einfach: Trotz seines naturalistischen, Konflikte nie künstlich überhöhenden Stils sind die Filme Farhadis meist packend wie ein Psychothriller! Auch in seinem nach „Le Passé – Das Vergangene“ (von 2013) zweiten Cannes-Wettbewerbsbeitrag „The Salesman“ zieht der Filmemacher die Spannungsschraube erneut bis zum Bersten an, und das nicht mit Hilfe von Actionszenen oder Explosionen, sondern nur mit starken Figuren, ambivalenten Konflikten und einem verzwickten moralischen Dilemma.
Nachdem ihr altes Haus abgesackt und in der Folge wegen großer Risse in den Wänden unbewohnbar geworden ist, ziehen der Lehrer Emad (Shahab Hosseini) und seine Frau Rana (Taraneh Alidoosti) in eine neue Wohnung, die ihnen ein Bekannter aus ihrer Theatergruppe vermittelt (aktuell wird gerade das Stück „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller geprobt; daher auch der Titel „The Salesman“). Was das Paar nicht weiß: Die Vormieterin, die ihre ganzen Sachen in einem der Zimmer zurückgelassen hat, bis sie eine neue Wohnung findet, ist eine Prostituierte (auch wenn das im Film immer nur angedeutet und nie explizit ausgesprochen wird). Eines Abends wird Rana von einem Mann im Badezimmer attackiert und blutend zurückgelassen – offenbar ein Freier, der nicht wusste, dass neue Mieter eingezogen sind. Während Emad nach dem Angreifer sucht, der seine Autoschlüssel und seinen Lieferwagen aus Schreck zurückgelassen hat, kriegt auch die Beziehung des Paares ganz wie die von ihnen verlassene Wohnung immer tiefere Risse …
In „Tod eines Handlungsreisenden“ geht es um Lebenslügen und wie sie eine Familie zerstören – und auch in „The Salesman“ werden, ausgelöst durch den Angriff, tieferliegende Konflikte an die Oberfläche gezerrt: Rana will nach der Attacke nicht mehr allein in der Wohnung bleiben, sich aber auch nicht von ihrem Mann helfen lassen – eine für Emad zunehmend frustrierende Situation. Er weiß einfach nicht, wie er mit seiner Frau umgehen soll, was zunehmend auch an seinem Selbstwertgefühl als Ehemann kratzt. Farhadi hat einen feinen Blick für die zunächst nur ganz minimalen Verschiebungen in der Beziehung, die er in seiner gewohnt zurückhaltend-naturalistischen Art sichtbar macht. Einen entscheidenden Anteil an der Intensität, die selbst diese äußerlich sehr ruhige Passage entwickelt, haben auch die Farhadi-Stammschauspieler Shahab Hosseini („Auf Wiedersehen“) und Taraneh Alidoosti („Alles über Elly“), die mit ihren subtilen Darbietungen auch unausgesprochen den Ballast einer ganzen jahrelang gelebten Beziehung vermitteln.
Noch spannender wird es, als Emad den Angreifer schließlich – mehr durch Zufall als durch seine halbgaren Ermittlungsversuche – ausfindig macht. Die Identität des Eindringlings erweist sich nämlich als echte Überraschung – wobei es Farhadi bei dem Twist nicht darum geht, den Zuschauer mit einer unerwarteten Wendung zu erstaunen, sondern vielmehr darum, Emads Suche nach seiner verlorenen Männlichkeit ins Leere laufen zu lassen. Hier offenbart sich plötzlich ein großes moralisches Dilemma, das es nicht nur dem aufgekratzten Emad, sondern auch dem Publikum im Kinosaal sehr schwer macht, klare Grenzen zwischen Recht und Unrecht zu ziehen: der ambivalente Höhepunkt eines an Uneindeutigkeiten reichen Films.
Fazit: Ein weiteres hochkomplexes, präzise beobachtetes und dazu auch noch unglaublich spannendes Moralstück des iranischen Meisters Asghar Farhadi.
Wir haben „The Salesman“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wurde.