Am 11. März 2009 betrat der 17-jährige Schüler Tim Kretschmer mit einer Pistole bewaffnet die Albertville-Realschule im schwäbischen Winnenden und richtete ein Blutbad an: Ein Schüler, sechs Schülerinnen und eine Lehrerin starben noch am Tatort, zwei weitere Schülerinnen auf dem Weg ins Krankenhaus. Insgesamt ließen bei dem Amoklauf, den Kretschmer noch bis ins 40 Kilometer entfernte Wendlingen fortsetzte und an dessen Ende er sich selbst richtete, fünfzehn unschuldige Menschen und der Täter ihr Leben. Gut vier Jahre hat es gedauert, bis sich auch die Krimireihe „Tatort“ an die von Politik und Medien heiß diskutierte Schreckenstat heranwagt: In Nicolai Rohdes „Freunde bis in den Tod“ suchen die Ludwigshafener Kommissare Odenthal und Kopper den Mörder eines Schülers, der einen Amoklauf an seiner Schule geplant hatte. Leider setzt sich der Trend, dass in der BASF-Stadt seit Jahren kein wirklich guter „Tatort“ mehr gedreht wurde, fort: „Freunde bis in den Tod“ ist weder ein überzeugender Krimi noch ein gehaltvoller Beitrag zur andauernden Diskussion um die Beweggründe von jugendlichen Massenmördern.
Auf einem abgelegenen Feldweg wird der 19-jährige Schüler Ron (Rick Okon) erschossen aufgefunden. Von der Tatwaffe fehlt jede Spur. Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und ihr langjähriger Kollege Mario Kopper (Andreas Hoppe) finden heraus, dass der gut aussehende, geheimnisvolle Teenager nicht nur ein hochbegabter Schüler und Computerprogrammierer war, sondern auch die Herzen der Mitschülerinnen zum Schmelzen brachte. Glühendste Verehrerin war seine naive Nachbarin Julia (Leonie Benesch), die sich von ihm zu freizügigen Fotos und Videoaufnahmen überreden ließ und zu spät bemerkte, dass ihr Schwarm diese im Internet hochladen könnte. Ins Visier der Ermittler rücken neben Julia auch der wortkarge Manu (Joel Basman), Rons einziger Freund, der spielsüchtige Vertrauenslehrer Haller (Anian Zollner) und der undurchsichtige Flohmarkthändler Frank Ösner (Simon Schwarz).
Man stelle sich einen typischen jugendlichen Amokläufer vor: Ein dunkel gekleideter, pickliger und verbitterter Außenseiter, der von seinen Mitschülern verspottet, von seinen Eltern nicht verstanden und von Mädchen gemieden wird – ein Eigenbrötler, der seine Freizeit mit Ballerspielen vor dem Computer verbringt. Oder vielleicht doch nicht? Im 882. „Tatort“ jedenfalls werden all diese Klischees fleißig bedient, wenngleich Drehbuchautor Harald Göckeritz und Regisseur Nicolai Rohde („Zwischen Tag und Nacht“) sie zumindest auf die zwei befreundeten Schüler aufteilen: Während das ermordete Computertalent Ron das Schulgebäude digital nachgebaut und als Schauplatz für einen selbstprogrammierten Ego-Shooter zweckentfremdet hat, hängt beim verschlossenen Außenseiter Manu, der von seinem Schwarm Julia links liegen gelassen wird, gründlich der Haussegen schief (Manus Stiefvater mimt übrigens der zukünftige Frankfurter „Tatort“-Kommissar Wolfram Koch).
Die mit Abstand interessanteste Figur ist damit die leichtsinnige Julia, die sich – „American Beauty“ lässt grüßen – vom gegenüber wohnenden Einzelgänger Ron hat filmen lassen und damit Gefahr lief, im Internet vor aller Augen bloß gestellt zu werden. Ein hervorragendes Tatmotiv – doch wirklich Neues gewinnen Göckeritz und Rohde dem Cyber-Mobbing, unter dem heute immer mehr Jugendliche leiden, nicht ab. Neben Julia kommen noch drei weitere Personen als Mörder in Frage, doch wenn der Krimi schon „Freunde bis in den Tod“ heißt, muss man kein großer Prophet sein, um den unausweichlichen Schlussakkord am Hölderlin-Gymnasium vorherzusehen: Der Amoklauf will schließlich zu Ende gebracht werden. Ein dramatisches Finale wie in Lynne Ramsays beklemmenden Familiendrama „We Need To Talk About Kevin“ oder Gus van Sants vieldiskutiertem „Elephant“ hat das Sonntagabendpublikum freilich nicht zu befürchten: Zehn Minuten vor „Günther Jauch“ sendet die ARD natürlich keinen Massenmord mehr – zumindest dann nicht, wenn nicht auch ein entsprechender Themenabend auf dem Programm steht.
„Freunde bis in den Tod“ krankt als typischer „Tatort“ aus Ludwigshafen leider auch weiterhin an den bekannten Schwächen: Lena Odenthal hält pseudo-tiefsinnige Monologe in menschenleeren Turnhallen und zieht im Zehn-Minuten-Takt überflüssige Zwischenresümees, die Dialoge sind hölzerner als ein Hochsitz und Mario Kopper ballert sich als ewiges Kind im Manne durch die digitale Schulkulisse, die Ron seiner Nachwelt hinterlassen hat. Während die Kommissare Computer spielen, Rotwein trinken und sich durch ergebnislose Befragungen quälen, erledigt der emsige Becker (Peter Espeloer) im Präsidium mal wieder die Fleißarbeit und bringt die Ermittlungen damit im Alleingang voran: Rekonstruktion des Tathergangs, Faserspuren unter den Fingernägeln, akribische Audioanalyse – der Mann kann einfach alles. Für eingefleischte Fans des Ludwigshafener Fadenkreuzkrimis mag dieses Rezept noch immer aufgehen – doch der Eindruck, dass Odenthal und Kopper ihre besten Jahre hinter sich haben, verfestigt sich mit jedem neuen „Tatort“ mehr.
Fazit: Ein „Tatort“ über den Amoklauf eines Schülers hätte eine durchaus spannende Angelegenheit werden können – bei einem guten Drehbuch, vielschichtigen Charakteren und einer steilen Spannungskurve. „Freunde bis in den Tod“ hat nichts davon.