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    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
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    Der neue Streich des "Forrest Gump"-Dreamteams.

    Von Gaby Sikorski

    Vielleicht wird Robert Zemeckis („Cast Away“) als Regisseur in die Geschichte eingehen, der in seinem Schaffen die cineastischen Grenzen des Publikumsfilms bis zum Anschlag ausgelotet hat: Schließlich sind seine Werke meist nicht nur technisch brillant, sondern verknüpfen oft auch eine ungewöhnliche Handlung mit einer geradezu unbändigen technischen Experimentierfreude. Zemeckis hat das, was man in Berlin „Traute“ nennt – er traut sich was!

    Mit seinem Megahit „Zurück in die Zukunft“ kreierte er eine ikonische Zeitreise-Komödie, die technisch und dramaturgisch so perfekt umgesetzt war, dass sie tatsächlich glaubwürdig wirkte. In „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“ kombinierte er genial Animations- und Realfilm, bevor sein „Forrest Gump“ mit Tom Hanks als Lucky Loser mit Pralinenschachtel zum cineastischen Triumph avancierte: Darin verwendete Zemeckis neben etlichen anderen experimentellen Methoden auch schon „Deepfakes“, obwohl der Begriff erst 23 Jahre später erstmals auf Reddit auftauchte.

    „Here“ zeigt über viele Jahrtausende hinweg immer denselben Ort – und irgendwann steht da ein Haus, und wir schauen mitten hinein ins Wohnzimmer. DCM
    „Here“ zeigt über viele Jahrtausende hinweg immer denselben Ort – und irgendwann steht da ein Haus, und wir schauen mitten hinein ins Wohnzimmer.

    Genau 30 Jahre später kommt das „Forrest Gump“-Quartett um Robert Zemeckis, Drehbuchautor Eric Roth sowie die Stars Tom Hanks und Robin Wright für einen neuen Film zusammen – und mit inzwischen 72 Jahren scheint der Regisseur nur noch experimentierfreudiger geworden zu sein: Die Graphic-Novel-Adaption „Here“ ist die Geschichte eines nur wenige Quadratmeter großen Fleckchens, das mit einer fest montierten, starren Kamera eingefangen wird. Es gibt also keine Fahrten, Schwenks, Kamerawinkel, Zooms oder sichtbare Schnitte. Stattdessen Tableaus. Die Perspektive und der Bildausschnitt bleiben gleich.

    Die Zeit, also die Geschichte der Welt und der Menschen, die hier leben, rauscht durch diesen Ort hindurch – beginnend mit der Urzeit! Da trampelt zu Beginn eine Saurier-Stampede durch den Ur-Urwald in ihr sicheres Verderben. Später tauchen die ersten Menschen auf, ein indigenes Liebespaar trifft sich an diesem Ort. Doch der Hauptteil des Films spielt in den letzten 120 Jahren, seit der Ort, auf den die Kamera blickt, Teil eines Hauses ist, genauer gesagt: das Wohnzimmer. Damit wird er zum Dreh- und Angelpunkt im Leben der Menschen, die „Here“ (= „hier“) wohnen. Ein Ort der Freude, der Liebe, der Hoffnung und des Leids.

    So einen Film habt ihr garantiert noch nie gesehen

    Die Zeit vergeht, der Ort bleibt derselbe – und irgendwann ist er Heimat. Für das verliebte indigene Paar, das den Beginn der menschlichen Besiedlung markiert, ebenso wie für alle, die ihnen folgen. „Here“ verbindet eine Reihe von parallellaufenden kleinen Geschichten über Familien, die nur durch den Schauplatz miteinander verbunden sind und in sich chronologisch erzählt werden. Ansonsten geht es querbeet. Das hat besonders zu Beginn – siehe die Saurier – etwas Übermütiges, als ob uns Zemeckis direkt mal augenzwinkernd zeigen will, was er alles draufhat. Es gibt manchmal irritierend schnelle Wechsel, wobei die Übergänge ebenso kunstvoll wie variantenreich inszeniert sind. Mal steht diese, mal jene Familie im Fokus – und zwischendurch gibt es immer wieder Überraschungen in Gestalt von neuen Hausbewohnern, die nur für kurze Zeit auftauchen und dann wieder verschwinden.

    Das gilt für die Schwarze Familie mit ihrer Angst vor rassistischen Übergriffen ebenso wie für die ursprünglichen Erbauer des Hauses. Die Personen wechseln, ihre Kleidung ändert sich je nach der Mode, so wie die Einrichtung des Wohnzimmers oder die Fahrzeuge, die draußen vorbeifahren. Das ist tatsächlich so reizvoll wie abwechslungsreich, auch wenn die Zeitsprünge viel Aufmerksamkeit erfordern – da gerät selbst die starre Kamera beinahe in Vergessenheit. Diese kreiert – wie auch schon im Comic (» bei Amazon*), wo jedes Panel aus exakt derselben Perspektive gezeichnet ist – einen „Guckkasten-Effekt“, der zunächst für Distanz sorgt, ähnlich wie im Theater. Im Verlauf des Films, wenn man sich an den Blick gewöhnt hat, verschwindet die Distanz jedoch – und die handelnden Personen kommen einem immer näher.

    Das De-Aging von Tom Hanks und Robin Wright ist leider nicht gerade die größte Stärke des Films. DCM
    Das De-Aging von Tom Hanks und Robin Wright ist leider nicht gerade die größte Stärke des Films.

    Zusätzlich gibt es eine Hauptgeschichte, die alles zusammenhält, mit einer Art Kernfamilie. Sie besteht aus Richard (Tom Hanks) und Margaret (Robin Wright) sowie Richards Eltern Al (Paul Bettany) und Rose (Kelly Reilly). Al und Rose ziehen nach dem Zweiten Weltkrieg in das Haus – mitsamt all ihrer Wünsche und Träume. Von den meisten müssen sie sich nach und nach verabschieden. Das ist ebenso normal wie tragisch. So kommt Al mit einem Kriegstrauma nach Hause und wird zum Alkoholiker. Paul Bettany spielt ihn eindrucksvoll mit zurückhaltender Melancholie. Rose bemüht sich, alles richtigzumachen, Kelly Reilly spielt sie als typisch brave Ehefrau mit einem dezenten Hauch von Rebellion. Ihr Sohn Richard hat mit 18 hochfliegende Pläne, aus denen nichts wird. Denn seine Freundin Margaret ist schwanger, deshalb wird 1964 geheiratet und sie wohnen weiterhin im Haus bei Al und Rose.

    Richard und Margaret werden damit zum Anker, denn sie führen quasi durch den Film. Tom Hanks spielt die undankbare Rolle eines absoluten Normalos, und er zeigt, dass er auch das kann. Robin Wright hat die anspruchsvollere Aufgabe und nimmt sie dankbar an. Mit der u. a. aus dem Marvel-Universum bekannte De-Aging-Technologie wurden die Stars für ihre Rollen per KI künstlich verjüngt. So richtig natürlich wirkt das zwar nicht, doch das Zusammenspiel des „Forrest Gump“-Paares hat trotzdem etwas Rührendes, etwas sehr Freundliches, was sicherlich auch mit Nostalgie sowie dem Star-Appeal der beiden zu tun hat. Das macht sogar die Tatsache ein bisschen wett, dass der künstlich verjüngte Tom Hanks gar nicht so aussieht wie der echte junge Tom Hanks, an den sich ja viele von uns vielleicht auch noch erinnern.

    Was ist eigentlich Geschichte?

    Die Menschen verändern sich im Lauf der Zeit. Sie werden älter, manchmal sogar klüger, und sie passen sich an. Aber in „Here“ wird eigentlich nicht die Geschichte von Menschen erzählt, sondern streng genommen die Geschichte eines Ortes, an dem eine Kamera steht. Und diese Geschichte besteht aus den Erinnerungen von Menschen, die an diesem Ort gelebt haben. Letztlich wird der Umgang mit der Zeit im Film zum Abbild eines Konzepts des historischen Denkens, das Geschichte nicht als Abfolge von Ereignissen und Jahreszahlen betrachtet, sondern Kontinuität und Wandel berücksichtigt und sich auf die Zusammenhänge des menschlichen Zusammenlebens konzentriert.

    Diese Denkweise über zeitliche Abläufe entspricht in wesentlichen Zügen dem modernen Geschichtsbild und hat auch was Philosophisches. Zumal sich die Idee von Zeit wie ein roter Faden durch das Schaffen von Robert Zemeckis zieht, und damit meinen wir längst nicht nur seine „Zurück in die Zukunft“-Trilogie: Was machen wir mit der Zeit, und was macht die Zeit mit uns? So wie es bei „Forrest Gump“ den Rückblick auf ein Leben voller merkwürdiger Zufälle gibt, ist es hier der Blick auf den Alltag der Menschen, der mal heiter und mal traurig ist.

    Fazit: Viele Leben ziehen an der Kamera vorbei, und jedes ist einmalig, sagt „Here“, aber die Gefühle sind oft sehr ähnlich – und das geht schon mit den Sauriern los. Robert Zemeckis hat rund um ein paar Quadratmeter gelebte USA-Geschichte einen unterhaltsamen Film komponiert, der sich – mal knallig, mal leise – atmosphärisch immer mehr steigert und zum Ende hin richtig emotional wird. 3 Sterne plus 1 zusätzlicher Nostalgie-Stern für das Paar Robin Wright und Tom Hanks. Insgesamt ein ziemlich gelungenes Senioren-Teamwork: freundlich, weise und milde lustig.

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