Nicht nur für Stephen King ein "cleveres Meisterwerk"
Von Lutz GranertDer vertrackte Thriller-Mindfuck „Strange Darling“ blickt auf eine bewegte Produktionsgeschichte zurück: Die Geldgeber verlangten nach Beginn der Dreharbeiten nicht nur eine Neubesetzung der Hauptdarstellerin Willa Fitzgerald, sondern unterbrachen wegen ihrer Unzufriedenheit mit dem abgelieferten Material auch für mehrere Tage die Produktion. Aus Budgetgründen konnte zudem eine aufwändige Sequenz in einem Fluss nicht gedreht werden. Aber als ob das für den Regisseur und Drehbuchautor J.T. Mollner („Outlaws And Angels“) nicht schon genug „traumatische Erfahrungen“ wären, wie er in einem Podcast gestand, engagierte die Produktionsfirma Miramax hinter seinem Rücken auch noch einen neuen Cutter, um die finale Schnittfassung zu ändern.
Das Ziel der Produzenten: Die sechs Kapitel der Story, zwischen denen der Thriller vor- und zurückspringt, entgegen der originalen Vision strikt chronologisch zu montieren. Gut, dass es dazu nach starken Ergebnissen der Ursprungsfassung bei Testvorführungen nicht gekommen ist. Schließlich ist die zunächst willkürlich wirkende Erzählweise ja der eigentliche Witz dieser Independent-Perle mit Grindhouse-Anleihen, die gerade wegen der ungewöhnlichen Kapitelstruktur eine faustdicke Überraschung mit großem Diskussionspotenzial für das Publikum bereithält. Aus diesem Grund feiert nicht nur Horror-Maestro Stephen King den Film bereits als „cleveres Meisterwerk“ ab.
Eine namenlos bleibende Frau (Willa Fitzgerald) flieht in Todesangst im Auto vor einem schlicht als „The Demon“ betitelten Mann mit Gewehr (Kyle Gallner). Nach einem Unfall setzt sich das Katz-und-Maus-Spiel in einem Waldstück fort. Die panische junge Frau findet das abgelegene Haus von Frederick (Ed Begley Jr.) und Genevieve (Barbara Hersehy). Nur widerwillig gewährt ihr das Alt-Hippie-Paar Unterschlupf – doch der Verfolger lässt nicht lange auf sich warten...
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In seiner zweiten Regiearbeit springt J.T. Mollner nach einer Texttafel über einen Serienkiller, der zwischen 2018 und 2020 sein Unwesen getrieben haben soll, sowie einer kurzen Fluchtszene zu einer akustischen Coverversion des Nazareth-Hits „Love Hurts“ direkt ins dritte Kapitel seiner Story. Erst später kehrt er zu den Anfängen zurück, um nach und nach Hintergründe der zunächst kontextlosen Hatz offenzulegen. Dabei rechtfertigen nicht nur die Aufteilung des Films in pointiert bezeichnete Kapitel sowie einige besonders grotesk-blutige Gewaltspitzen den Vergleich zu den Werken von „Pulp Fiction“-Mastermind Quentin Tarantino:
Der vom Bahnhofskino der 1970er Jahre beeinflusste Meisterregisseur ist schließlich bekannt dafür, immer noch auf analogem Filmmaterial zu drehen. Auch „Strange Darling“ wurde komplett auf 35mm-Material gedreht, und zwar von niemand geringerem als Schauspieler Giovanni Ribisi („Horizon“), der hier sein Debüt als Kameramann gibt. Die körnigen Bilder in satten Farben erinnern dabei ebenso an die Hochzeit des Grindhouse-Genres wie der knallroter Ford Pinto als Fluchtfahrzeug der Frau. Ohnehin ist Rot in vielen Szenen auffällig präsent, um farbdramaturgisch die von allerlei Leidenschaften gespeiste Gefahrensituation zu unterstreichen.
Quentin Tarantino verwendete u. a. in „Jackie Brown“ und „The Hateful Eight“ eine sogenannte „Split Diopter“-Kameralinse, welche zwei verschiedene Schärfebereiche in einer Einstellung ermöglicht. In „Strange Darling“ kommt eine solche Linse in einer besonders perfiden Szene zum Einsatz, in der im Vordergrund eine andere pulvrige Droge dosiert wird, als es das im Hintergrund auf dem Bett liegende Opfer erwartet. Mit solchen visuellen Spielereien und Anspielungen ist „Strange Darling“ eine veritable Wundertüte, die am besten ohne großes Vorwissen funktioniert. Wobei das Konzept des Films vor allem auf seiner (zunächst) willkürlich erscheinenden Erzählstruktur beruht. Ein wesentlicher (und auch für eine Filmkritik bedeutsamer) Twist wird so bis zum Ende der ersten Filmhälfte clever ausgespart.
Wer sich daher nicht spoilern lassen möchte, sollte den nächsten Absatz aussparen und zum Fazit springen!
J.T. Mollner spielt in Dialogen um einen umgehenden Serienkiller und bei Würgespielen im Bett gekonnt mit der Erwartungshaltung des Publikums. Kyle Gallner („Smile“) passt mit Holzfällerhemd, Schnauzbart und schroff-tumbem Auftreten auch einfach zu gut ins Bild eines Redneck-Killers. Und wer würde bei der tränenreichen und emotionalen Performance von Willa Fitzgerald („Der Untergang des Hauses Usher“) mit stark blutendem Ohr schon an der Unschuld der zierlich-fragilen Frau zweifeln?
Doch genau mit diesen (zu) schnell akzeptierten Geschlechter- und Rollen-Klischees rechnet Mollner ab und dreht sie voller Chuzpe auf links, was man als Stinkefinger in so ziemlich jede Richtung, ob nun #MeToo oder ihre Gegenbewegung verstehen kann. (Dass die Produktionsfirma Miramax lange Zeit von Harvey Weinstein geführt wurde, gegen den zahlreiche Prozesse wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch liefen und laufen, stößt in diesem Zusammenhang zwar bitter auf, aber da kann ja der Regisseur nicht wirklich etwas für.)
Das Skript ist dabei bei Weitem nicht perfekt. Besonders in den ersten beiden Kapiteln neigt J.T. Mollner zu überlangen, geschwätzigen Dialogen – und bei der bis zum Ende spannenden Flucht der Frau nimmt er es mit der Logik (Rauchen im Wald-Versteck) auch nicht immer so genau. Von diesen Schönheitsfehlern abgesehen, ist ihm mit „Strange Darling“ aber ein ebenso gnadenlos wie erfrischend gegen den Strich gebürsteter Thriller gelungen.
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Fazit: Der blutige Thriller „Strange Darling“ bietet in wunderschönen analogen Bildern ein erfrischendes Katz-und-Maus-Spiel, das auch abseits der verschachtelten Kapitelstruktur in vielerlei Hinsicht an die Werke von Quentin Tarantino erinnert. Ebenso subversiv und überraschend, wie temporeich und spannend!
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