Emir Kusturica gehört einem exklusiven Club an: Er ist neben großen Namen wie Francis Ford Coppola („Apocalypse Now“) oder Michael Haneke („Das weiße Band“) einer von insgesamt nur neun Filmemachern, die gleich zwei Mal in ihrer Karriere beim Festival von Cannes mit der Goldenen Palme geehrt wurden (er gewann 1985 für „Papa ist auf Dienstreise“ und zehn Jahre später für „Underground“). Mit seiner Mischung aus brisanten politischen Themen und kraftvoller, sehr individuell zu einer Art magischem Realismus überhöhter Balkan- oder Russland-Folklore traf der serbisch-französische Regisseur und Musiker einen Nerv bei Kritikern und Publikum, zugleich sorgte seine starre pro-serbische Sicht auf die komplexen regionalen Konflikte der Zeit aber auch für Kontroversen. Im neuen Jahrtausend wurde es zunehmend ruhiger um den Filmemacher, nach seiner Diego-Maradona-Doku „Die Hand Gottes“ aus dem Jahr 2008 hat er mit Ausnahme eines Segments im Episodenfilm „Words With Gods“ bis 2016 keine Regiearbeit mehr realisiert. Sein Langfilm-Comeback „On The Milky Road" zeigt einen etwas milderen Kusturica: Die auf drei wahren Geschichten und vielen Träumereien (so besagt es zumindest eine Texteinblendung zu Filmbeginn) basierende tragikomische Kinofabel kommt vergleichsweise unpolitisch daher, aber seine Fabulierlust hat der exzentrische Künstler nicht verloren.
Der traumatisierte Ex-Musiker Kosta (Emir Kusturica) verdingt sich seit dem brutalen Tod seines Bruders als Milchlieferant. Obwohl er seinen Kopf ständig in den Wolken hat und der Bosnienkrieg vor seiner Haustür auf Hochtouren läuft, schafft Kosta es immer wieder unbeschadet, bei einem leicht abgelegenen Bauernhof Milch für seine Nachbarschaft zu besorgen. Und ganz nebenher hat er, gegen seinen eigenen Willen, das Herz der Meisterturnerin und „Flashdance“-Verehrerin Milena (Sloboda Mićalović) erobert. Milena wiederum hat einen Heiratsvermittler beauftragt, eine Braut für ihren derzeit im Krieg kämpfenden Bruder Žaga Bojović (Predrag Manojlović) zu finden – die Wahl fällt auf eine Italienerin (Monica Bellucci), die sich in Osteuropa vor ihrem früheren Geliebten versteckt und bereit ist, ein neues Leben zu beginnen. Doch zwischen allerlei Dorffesten, Missgeschicken mit einer widerspenstigen Bahnhofsuhr und tierischen Eskapaden bemerkt die künftige Braut, dass sie lieber den sie anhimmelnden Kosta heiraten würde als einen ihr unbekannten Kriegshelden ...
Schon in seinem minutenlangen Prolog mit umherfliegenden und -streunenden Tieren vor pittoresker serbischer Landschaft deutet Emir Kusturica an, in welche Richtung seine milchige Straße führt: Ein Raubvogel kreist majestätisch über das Kriegsgebiet und stiftet unter den Augenzeugen eine Diskussion an, ob es sich bei ihm nun um einen Falken oder um einen Habicht handelt. Kühe weiden unbehelligt vor sich hin. Und laut schnatternde Gänse nehmen ein Bad in Schweineblut, um so Insekten anzulocken, die sie genüsslich vertilgen – all dies wird von den Kameramännern Martin Sec und Goran Volarevic in kräftigen Farben abgelichtet und von Cutter Svetolik Zajc keck montiert, wodurch das Geschehen eine verspielt-exzentrische Stimmung versprüht. Dass man sich hier in unmittelbarer Nachbarschaft eines Kriegsgebiets befindet, spielt hier und auch beim Folgenden nur eine untergeordnete Rolle, gesellschaftskritische (Unter-)Töne bleiben eine Seltenheit.
Dem lockeren Tonfall des Auftakts bleibt der Regisseur auch während der eigentlichen Handlung treu und garniert seine Dreiecksgeschichte zwischen Milchmann Kosta, seiner Verehrerin Milena und der namenlosen italienischen Braut, die er in der zweiten Filmhälfte mit dem Auftauchen des vorgesehenen Ehemanns zum veritablen Liebesquartett ausweitet, mit wildem Buster-Keaton-Slapstick rund um eine Uhr mit geradezu bissiger Mechanik sowie mit zahlreichen kuriosen Randbeobachtungen der Tierwelt: Von einem eitlen Huhn bis zur milchtrinkenden Schlange ist fast alles dabei. Immer wenn echte Tiere zum Einsatz kommen, hat das den putzigen Charme des Einfachen, die mit Computertrickserei verwirklichten Passagen bleiben dagegen digitale Fremdkörper in dem visuell sonst geradezu altmodisch wirkenden Film.
Kusturica verleiht seiner Aneinanderreihung von Augenblicken aus dem Leben Kostas und seiner den Krieg weitgehend ausblendenden Nachbarschaft eine ganz eigene Dynamik: Die heiter-folkloristische Musikuntermalung und das karikatureske Spiel Sloboda Mićalovićs als Milena sowie die in ihrer absurd-beiläufigen Brutalität fast schon an die „Looney Tunes“-Cartoons erinnernden Gewaltspitzen sorgen für eine gewisse Überdrehtheit, die im Kontrast zur gelassenen Ausführlichkeit steht, mit der Kusturica einzelne Szenen ausspielt. Letztere führt manchmal dazu, dass sich Gags totlaufen, wie bei einer minutenlangen Passage, die zeigt, was passiert, wenn eine Schafsherde zu nah an ein Minenfeld gelangt. Anderen Sequenzen verleiht der Rhythmuswechsel hingegen einen bittersüßen Zauber - etwa wenn die Dorfbewohner während einer Feuerpause die desolaten Häuserwände mit Lichterketten schmücken und zu ausgelassenen Melodien gesellschaftskritische Texte singen.
Im letzten Filmdrittel gibt Kusturica seine bis dahin locker-episodenhafte Erzählweise auf und rückt allein die Liebe zwischen Milchmann und Braut in den Fokus, wobei er immer stärker auf eine eigenwillige Traumlogik setzt. Jede Zwickmühle, in die seine Figuren geraten, wird einfach mit passend zusammenfabulierten übernatürlichen Mitteln (und halbgaren Digitaltricks) überwunden. So kann Kostas Raubvogel-Kumpan bei Bedarf plötzlich heftige Windböen erzeugen – aber auch nur ein einziges Mal. Dem eskalierenden folkloristischen Wahnwitz aus rabenschwarzem Humor und melancholisch-blauäugiger Romantik können indes auch Kusturica mit seinem betont bodenständigen Spiel in der Hauptrolle und die bei aller Absurdität konstant würdevolle Monica Bellucci („Matrix Reloaded“) nicht genügend Erdenschwere verleihen, um ihre Figuren glaubwürdig und echt erscheinen zu lassen. „On The Milky Road“ ist ein sonderbarer und unausgegorener, aber faszinierender Film irgendwo zwischen Osteuropa-Märchen und Kunstkino-Exzentrik.
Fazit: Emir Kusturica verkneift sich bei seinem Kinocomeback die gesellschaftskritischen Provokationen und setzt bei der märchenhaft-verqueren Tragikomödie „On The Milky Road“ ganz auf exzentrische Balkan-Folklore und schwarzhumorigen Slapstick.