Als er 1960 „Psycho" in die Kinos brachte, hat Alfred Hitchcock bestimmt, dass nach Beginn des Films niemand mehr in den Saal gelassen wird – nicht einmal die Königin von England. Der Meister des Suspense wollte niemandem den Überraschungseffekt verderben, denn mit der berühmten Duschszene sorgte er nicht nur für unerhörten suggestiv-brutalen Schrecken, sondern auch für einen dramaturgischen Paukenschlag, der seine volle Wirkung nur beim Sehen des ganzen Anfangs entfaltet. Nun wäre es übertrieben, Steven Soderberghs Psycho-Thriller „Side Effects" mit dem Klassiker auf eine Stufe zu stellen, aber eines haben die beiden Filme mindestens gemeinsam: Sie sind besonders spannend, wenn man sie ohne allzu viel Vorwissen auf sich wirken lässt. Dabei gibt es in „Side Effects" nicht nur einen „Psycho"-würdigen Kniff, sondern gleich mehrere dicke Überraschungen und teuflische Twists. Darüber werden wir hier natürlich nichts verraten, aber wer ganz auf Nummer sicher gehen will, kann auch einfach den folgenden Absatz mit der Inhaltsangabe überspringen oder die Kritik erst nach dem Kinobesuch weiterlesen. So oder so erwartet euch ein spannender und stilvoller Thriller voller Intrigen, Täuschung und Doppelbödigkeit. Und das Schönste ist: Beim zweiten Sehen ist „Side Effects" - dann auf andere Weise – immer noch genauso gut und man kann sich auf die cleveren thematischen Zwischentöne sowie die herausragenden Darstellerleistungen konzentrieren.
Der Banker Martin Taylor (Channing Tatum) und seine Ehefrau Emily (Rooney Mara) sind jung, gutaussehend und reich: Sie besitzen ein prachtvolles Haus, schicke Autos und eine Segelyacht. Ihr Leben könnte kaum schöner sein, doch dann bricht alles zusammen, als Martin wegen Insiderhandels verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wird. Emily muss in eine kleine Wohnung in Manhattan ziehen und einen Job annehmen. Es fällt ihr schwer, sich an ihr im Vergleich zum früheren Luxus bescheidenes neues Leben zu gewöhnen und sie verfällt in Depressionen. Auch nach Martins Haftentlassung geht es der jungen Frau nicht besser und als sie ihr Auto in einem Parkhaus ungebremst gegen eine Mauer steuert, geht der Psychologe Dr. Jonathan Banks (Jude Law) von einem Selbstmordversuch aus. Er nimmt Emily in Behandlung und verschreibt ihr nach der Konsultation ihrer früheren Ärztin Dr. Victoria Siebert (Catherine Zeta-Jones) ein neu entwickeltes Medikament. Doch das hat unerwartete Nebenwirkungen...
Schon seit Jahren hat Oscar-Preisträger Steven Soderbergh („Traffic") mit Rücktrittsgedanken kokettiert. Und nachdem er zuletzt in schneller Folge das Epidemie-Drama „Contagion", den Action-Spaß „Haywire" und die Strippersause „Magic Mike" inszenierte, soll sein Berlinale-Wettbewerbsbeitrag 2013 tatsächlich sein vorerst letzter Kinofilm sein. In Zukunft will er sich verstärkt der Malerei und dem Theater widmen sowie gelegentlich fürs Fernsehen arbeiten (die Ausstrahlung seines Liberace-Biopic „Behind The Candelabra" mit Matt Damon ist für Mai 2013 angekündigt). Und auch wenn Soderberghs Entscheidung für alle Kinofreunde sehr bedauerlich ist, so wäre „Side Effects" doch ein ebenso würdiger wie passender Abschluss seines Schaffens für die große Leinwand. Hier probiert sich der experimentierfreudige Filmemacher mal wieder an einem klassischen Genre-Stoff wie er das von „The Limey" über „Ocean's Eleven" bis zu „The Good German" regelmäßig getan hat und legt hier eine exquisite Mischung aus Suspense-Thriller und Film-noir-Motiven vor, die er mit einem ordentlichen Anteil aktueller thematischer Bezüge verfeinert.
Soderbergh spielt gelegentlich mit den inszenatorischen Zuspitzungen klassischer Thriller, etwa wenn er eine Großaufnahme von Rooney Maras Schuhsohle, die sich auf das Gaspedal senkt, einfügt, bevor sie den Wagen an die Wand fährt. Solche ungewöhnlichen Perspektiven und bedeutungsvollen Blicke dosiert er genau richtig. „Side Effects" ist im Gegensatz zu einigen anderen Soderbergh-Filmen keine Genre-Dekonstruktion, sondern eine zwar gewohnt kühl kontrolliert, aber ungemein wirkungsvoll inszenierte Variation bekannter Muster mit persönlichem Touch. Wenn hier Intrigen gesponnen und Rache genommen, wenn gelogen und betrogen wird – dann sind wir in der Welt des Film noir, im Universum von „Frau ohne Gewissen" und von „Goldenes Gift". Wenn Soderbergh mit den Erwartungen und den Emotionen des Publikums spielt, dann sind wir bei Hitchcock und De Palma („Blow Out", „Femme Fatale"). Und wenn er schließlich mehrere schwindelerregende erzählerische Haken schlägt, dann geht er über Filme wie „Zwielicht" oder „Fight Club" auf seine Weise noch hinaus.
Bei all den sehr klassisch anmutenden Elementen und den klaren Bezügen auf die Filmgeschichte hat „Side Effects" zugleich auch etwas entschieden Gegenwärtiges. Wie bereits bei „Contagion" über die unausweichliche Ausbreitung einer Virus-Epidemie sorgt auch hier Drehbuchautor Scott Z. Burns für eine brisante und hochaktuelle thematische Unterfütterung. Neben den gut recherchierten Details zum Depressionsleiden und seiner medizinischen Behandlung (gleichwohl geht es hier nicht um ein realistisches Porträt der Krankheit wie in Sandra Nettelbecks „Helen") als Teil der Thrillerhandlung geht es in vielsagenden Einzelheiten und entlarvenden Schlenkern immer wieder auch um eine größere Perspektive, um eine Welt, in der Menschen funktionieren und Leistung bringen müssen und wo das Einwerfen von Medikamenten zum Volkssport geworden ist: Beta-Blocker-Doping vor einem Bewerbungsgespräch ist da längst ganz normal. Hier scheint längst die ganze Gesellschaft infiziert, die Symptome heißen unmäßiger Ehrgeiz, unmenschlicher Erfolgsdruck und Gier: Dem Banker fehlt das Unrechtsbewusstsein für den Insider-Handel, die junge Frau, die sich an das Leben in Luxus gewöhnt hat, ist der Meinung, das stünde ihr weiterhin zu, der Arzt lässt sich von der Pharmaindustrie mit lukrativen Aufträgen ködern und denkt längst nicht nur an das Wohl des Patienten, wenn er vor Gericht als Gutachter aussagt oder Tabletten verschreibt.
In der buchstäblich kranken Welt von „Side Effects" sind auch Wahrheit und Lüge kaum noch zu unterscheiden. Liebe ist selbstverständlich eine Illusion und die Täuschung gehört zum Standardrepertoire aller Hauptfiguren – und irgendwie ja auch zum Handwerkszeug von Schauspielern, die hier entsprechend glänzen können. Channing Tatum („21 Jump Street", „G.I. Joe 2") zeigt, dass er auch in weniger körperbetonten Rollen seinen Mann stehen kann und Catherine Zeta-Jones („Chicago", „Broken City") ist in Kostüm und Brille eine ideale Intrigantin klassischen Zuschnitts. Ohne die facettenreiche Darstellung Jude Laws („Anna Karenina") würde der komplizierte Plot von „Side Effects" nicht funktionieren, er findet die richtige Balance zwischen sehr gegensätzlichen Polen und das gilt auch für Rooney Mara. Die ist Femme fatale und verängstigtes Mädchen zugleich und zeigt nach „Verblendung" erneut, dass sie das Zeug zum großen Star hat – eine große Schauspielerin ist sie schon jetzt. In ihrem Gesicht stehen mal Leid, Verzweiflung und große Traurigkeit, mal Verschlagenheit, Tücke und ein Hauch von Spott und mal alles zusammen. Und wer ihre zwei unterschiedlichen Gefühlsausbrüche aufmerksam betrachtet, der kann darin den ganzen Film wiederfinden.
Fazit: Steven Soderbergh dreht mit dem Psycho-Thriller „Side Effects" noch einmal richtig auf: In seinem vermeintlich letzten Kinofilm schickt er seine von der herausragenden Rooney Mara angeführte Darstellerriege in einen Abgrund aus Intrigen und Täuschung. Und den Zuschauer erwischt er mit perfekt eingefädelten Twists und Wendungen mehr als einmal auf dem falschen Fuß.