Die Kindheitsanekdote, mit der Ulrike Ottinger („Prater") ihre Faszination für Asien erklärt, ist gleichzeitig eine hervorragende Beschreibung von all dem, was ihren neuesten Film „Unter Schnee" auszeichnet: Sie habe als Neunjährige im Haus eines befreundeten Malers eine mongolische Truhe öffnen dürfen und darin eine korallene Schnupftabakdose, Teeschalen, die Hörner eines Wildschafes und allerlei andere Dinge gefunden, die Kinderfantasien beflügeln. Mit „Unter Schnee" ist der Regisseurin ein Film gelungen, der eben dieses kindliche Staunen fühlbar werden lässt. Zwischen Dokumentation und poetischer Erzählung balancierend nimmt Ottinger den Zuschauer mit auf eine surreale Reise durch die Schneelandschaft des japanischen Echigo.
Bis in den Mai hinein bedeckt meterhoher Schnee in der Region Echigo Landschaft und Dörfer. Die ungewöhnlichen Lebensumstände der Menschen dort haben ganz eigene Riten und Feste hervorgebracht. Durchsetzt werden die Alltagsbilder der Bevölkerung und ihrer Lebensweise mit der Fabel von zwei Studenten, die durch die List einer schönen Füchsin verwandelt und in Gestalt von Kabuki-Darstellern in die längst vergangene Edo-Zeit zurückversetzt werden. Beide Ansätze verwebt „Unter Schnee" und vermittelt so schillernde Einblicke in eine magische Welt.
Mit ihrer avantgardistischen Verstrickung von Fabel und Dokumentation verlangt Ottinger nach einem geduldigen Publikum mit einem Sinn für das Geheimnisvolle. So beginnt der Film etwa mit einer langen Sequenz, in der die Off-Sprecherin (Eva Mattes) die Erzählung über hypnotische Schnee-Panoramen ausbreitet. Dann wieder bleiben Kommentare und Erklärungen minutenlang aus, wird die Entrückheit von Riten und Gebräuchen wortlos in farb- und lichtintensiven Bildern zelebriert. Die Kabuki-Darsteller, die im Rahmen der episodisch erzählten Fabel auftreten, sind dabei zugleich Symbolfiguren und Fremdenführer – auf ihren Spuren wandelnd werden Vergangenheit und Gegenwart Echigos auf theatrale Weise vermittelt.
Wie etwa bei den Dokumentationen von Werner Herzog („Begegnungen am Ende der Welt") funktioniert Ottingers Ansatz, sachlich-informative Darstellung zugunsten einer poetischen Annäherung an das Filmthema aufzugeben, nicht nur hervorragend – er ist vielmehr die einzig angemessene Art, diese eigenartige Mythenwelt cineastisch zu einzufangen. Schließlich sind Erzählungen und Parabeln für die Menschen in Echigo nicht rituelles Beiwerk, sondern gelebter Glauben – umso passender also, dass Ottinger nicht zwischen Filmerzählung und Ethnographie unterscheidet. So ergeben sich psychedelische Überlagerungen verschiedener Erzähl- und Bildebenen, die „Unter Schnee" ebenso ornamental und irisierend erscheinen lassen wie die Kultur, die der Film nachzuzeichnen versucht.
Die bildgewaltige und berührende Filmreise nach Japan, zu der Ottinger mit „Unter Schnee" einlädt, ist alles andere als bloßer Kino-Pauschaltourismus. Mühelos schafft es die Regisseurin, die Distanz des westlichen Publikums zur märchenhaften Welt Echigos zu überbrücken und das Fremdartige bestaunbar zu machen, ohne es zu entmystifizieren. „Unter Schnee" ist eine formvollendeter, bildkompositorisch herausragender und poetischer Dokumentarfilm, der jeden Freund des meditativen Kinos begeistern wird.