Die Integrationskomödie „Almanya – Willkommen in Deutschland" der Schwestern Yasemin und Nesrin Samdereli über eine türkische Einwandererfamilie lässt sich grob zwei Filmkategorien zuordnen. Einerseits reiht sie sich ein in jene neuen deutschen Heimatfilme („Wer früher stirbt, ist länger tot", „Jerichow"), mit denen die Macher Deutschland fernab von den Schwarzwaldfilmchen der 1950er ein Stück Heimatgefühl abzutrotzen versuchen. Andererseits kommen einem bei „Almanya" natürlich auch sofort Multikulti-Komödien wie „Türkisch für Anfänger", „Süperseks" oder „Kebab Connection" in den Sinn. Vor allem die erste Hälfte überzeugt mit augenzwinkernden Einfällen, aufwändigen Szenebildern, viel Esprit und Liebe zum Detail. Ein präzise zusammengestellter Cast mit Denis Moschitto („Nichts bereuen"), Fahri Yardim („Chiko"), Petra Schmidt-Schaller („Ein fliehendes Pferd") und Aykut Kayacık („Evet, ich will!") tut sein übriges. Während man im Mittelteil zwischenzeitlich das Gefühl bekommt, dass vor lauter Ideenreichtum zu viele Bälle in der Luft gehalten werden, erscheinen die „Little Miss Sunshine"-Parallelen hinten raus doch ein wenig unverschämt. Nichtsdestotrotz bietet das Kinodebüt der Samdereli-Schwestern über weite Strecken charmante, geistreiche, liebevolle und aktuelle Unterhaltung.
45 Jahre nach ihrer Einwanderung lassen sich die Familienältesten Hüseyin (Vedat Erincin) und Fatma Yilmaz (Lilay Huser) einbürgern. Stolz wie ein Sultan kündet Fatma bei einem Familientreffen von ihrem Glück: „Wir sind Deutsche!" Das löst beim sechsjährigen Enkel Cenk (Rafael Koussouris) die erste Identitätskrise aus. Deutsche oder Türken, was sind wir denn nun? Auch Hüseyin hat noch eine Überraschung parat. Er habe in der alten Heimat ein Haus gekauft und möchte mit dem ganzen Clan in die Türkei fahren, um es auf Vordermann zu bringen. Während sich die drei Generationen der Yilmaz auf die Reise in ihr Herkunftsland machen, erzählt Canan (Aylin Tezel) ihrem Cousin Cenk etappenweise, wie Opa Hüseyin (Fahri Yardim) 1964 als 1.000.001 Gastarbeiter im Zuge der Einwanderungswelle in die Bundesrepublik kam, bald darauf seine Frau und die drei Kinder nachholte und anfängliche Eingewöhnungs- und Integrationsschwierigkeiten bewältigte. Doch nicht nur für Cenk ist das alles ganz schön viel. Die Fahrt in die Türkei wirft in allen die Frage auf, wo denn nun ihre eigentliche Heimat ist...
„Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen." - Max Frisch
Gefühlvoll und humorig wird der zentrale Konflikt anhand des kleinen Cenk eingeführt. In der Schule wählen ihn als Deutsch-Türken weder seine deutschen noch seine türkischen Mitschüler in ihre Fußballmannschaft. Im Unterricht sollen alle Kinder auf einer Europakarte ihren Herkunftsort zeigen. Cenks Fähnchen landet neben der Karte: Ostanatolien liegt nun mal in Asien. Als dann zu allem Überfluss Oma Fatma auch noch stolz mit ihrem neuen Pass wedelt, ist die Verwirrung komplett. Deutscher oder Türke - diese Identitätsfrage ist das treibende Leitmotiv. In einer einleitenden Collage macht der Film seinen realitätsnahen Anspruch deutlich. Originalaufnahmen des Gastarbeiterzuzugs oder ein damaliger SPIEGEL-Titel zur Einwanderungswelle wechseln mit Bildern der erstmaligen Ankunft Hüseyins im Jahr 1964. Es geht, wie schon das Max-Frisch-Zitat andeutet, um die Geschichten und Prozesse hinter den Immigrationen.
Zwei Handlungsstränge laufen dabei parallel: Canans Erzählung, wie die Familie einst nach Deutschland kam und es ihr hier erging, sowie die Erlebnisse des Clans auf dem Weg zum neu erworbenen Haus in der Türkei. Dabei sind die Rückblicke die komischeren Passagen. In ihrem Zentrum steht der junge Hüseyin, der mit schelmischer Energie und Autorität die Familiengeschicke lenkt. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer schreitet die Assimilierung voran und zum Schluss der Erzählung bricht die noch junge Familie zu einem Heimaturlaub auf und muss dort feststellen, dass sie sich von der türkischen Heimat entfremdet hat.
Dagegen setzen die Regieschwestern bei der gegenwärtigen Reise des – inzwischen zur Großfamilie angewachsenen – Clans stärkere dramatische Akzente. Auch hier steht eingangs Hüseyin im Mittelpunkt, doch treten nach und nach zunehmend die Geschwister samt ihrer Konflikte und Sorgen in den Fokus. Canan ist unverheiratet schwanger und weiß nicht, wie sie es ihrer Familie sagen soll. Die Brüder Veli (Aykut Kayacik) und Muhamed (Ercan Karacayli) haben sich voneinander distanziert. Der eine steht kurz vor seiner Scheidung, der andere ist arbeitslos und einsam. Das jüngste der Geschwisterkinder, Ali (Denis Moschitto), hat unterdessen eine innere Schutzwand gegen alles Türkische aufgebaut und findet gar keinem Bezug zum Vaterland mehr. In einer starken Szene sitzen Veli und Muhamed an der Hotelbar und werfen sich gegenseitig vor, nie für den anderen da gewesen zu sein. Das ist gerade deshalb stark, weil sich der Streit nicht in das sonst genreübliche Wohlgefallen auflöst. Fatih Akıns „Solino" lässt grüßen.
Eine solche Geschichte kann eigentlich nur dann authentisch rüberkommen, wenn sie aus eigenen Erfahrungen entspringt. Wie viel Herzblut und eigene Erlebnisse Yasemin und Nesri Samderelis in ihren Film gesteckt haben, ist deutlich zu spüren. Einige vor Witz nur so sprühende Traumsequenzen geben an neuralgischen Punkten Einblick in das Innenleben der Figuren: Der kleine Muhamed, vollkommen verwirrt von den Vorurteilen der türkischen Freunde und Verwandten („Deutsche waschen sich nicht und essen Menschenfleisch!"), besinnt sich vor der Ausreise nach Deutschland 1964 auf seine heißeste Sehnsucht: Coca Cola. Sich auf dem Bett wie im Schlaraffenland lümmelnd, sprießt auf dem Boden ein Wald aus Colaflaschen, die er selig mit einem ellenlangen Strohhalm leert. In einer ähnlich absurden Sequenz sich Hüseyin und Fatma vor der Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft dazu verpflichten, Mitglieder eines Schützenvereins zu werden, zwei Mal die Woche Schweinefleisch zu essen, jeden Sonntag „Tatort" zu schauen und jeden zweiten Sommer auf Malle zu verbringen. Hier brechen uns die Samdereli-Schwestern kurz die deutsche Leitkultur auf ihre Essenz herunter.
Dabei verkörpern Axel Milberg und Katharina Thalbach in kurzweiligen Cameo-Auftritten Schattierungen der deutschen Kleingeistigkeit. Nicht nur in diesen Szenen stechen die detaillierten und aufwändigen Szenenbilder ins Auge. Während ein Jesus-Albtraum doch sehr an die Fegefeuer-Revuen aus „Wer früher stirbt, ist länger tot" erinnert, glückt den Regisseurinnen hinsichtlich des Sprachenwirrwarrs ein großer Wurf: Damit das deutsche Kinopublikum sie auch versteht, spricht die türkische Familie, obwohl der Sprache noch gar nicht mächtig, nach ihrer Einwanderung sofort deutsch. Um aber zu zeigen, wie Yilmaz die Sprache seiner neuen deutschen Mitbürger lediglich als Kauderwelsch wahrnimmt, sprechen die Deutschen allesamt eine Fantasiesprache, angelehnt an Charlie Chaplins „Gibberish" aus „Der große Diktator".
Nach einem temporeichen und sehr heiteren Auftakt kommt zunehmend eine tragischere Note zum Tragen. Wichtig für die Charakterzeichnungen, klar, aber mit dem Tempo geht auch der erzählerische Fokus im zweiten Drittel ein wenig verloren und erste Längen schleichen sich ein. Der Rückblick ist praktisch auserzählt, die Türkeifahrt noch nicht richtig in Fahrt und einige Ideen wollen nicht so recht zünden Sowieso ist der Erzählstrang um die Türkeireise, der auch erst später im Schreibprozess hinzukam, der merklich schwächere, auch weil hier allzu offensichtlich von „Little Miss Sunshine" abgekupfert wurde.
Fazit: „Almanya – Willkommen in Deutschland" ist ein liebevolles und ideenreiches Familienporträt, das dem häufig behandelten Filmthema „Immigration" einige erfrischende, augenzwinkernde, aber auch ernste Aspekte hinzufügt. Trotz einiger weniger Längen definitiv sehenswert.
Hinweis: Vom Film wird es eine deutsche sowie eine türkische Fassung geben, die beide in Deutschland gezeigt werden.