Mein Konto
    Space Tourists
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Space Tourists
    Von Carsten Baumgardt

    Die Suche nach dem Unbekannten treibt die Menschheit seit Anbeginn ihrer Existenz um. Das mag in der Filmwelt nicht unbedingt für Mainstream-Hollywood gelten, da dort in erster Linie die breite Masse in die Kinos gelockt werden soll, aber abseits dieser Pfade des längst Bekannten und oft Bewährten haben viele Filmschaffende Ambitionen, ihrem Publikum nie dagewesene Welten zu eröffnen. Arthaus-Star Werner Herzog fand diese zum Beispiel zuletzt in „Encounters At The End Of The World" buchstäblich am Ende der Welt im McMurdo-Sund in der Antarktis, wo er unter Wasser ein seltsam fremdes Universum inszenierte. Dem Schweizer Filmemacher Christian Frei („War photographer") gelingt in seiner atmosphärischen Raumfahrt-Dokumentation „Space Tourists" auch ein kleiner Geniestreich, indem er seine originären, teils sensationellen Bilder genau dort sucht und findet, wo sie niemand vermutet... in der Einöde der kasachischen Steppe.

    Lassen sich Träume in nackten Zahlen ausdrücken? Im Fall der amerikanisch-iranischen Milliardärin Anousheh Ansari schon. 20 Millionen Dollar investierte der „Star Trek"-Fan, der mit seiner Internetfirma tti (Telecom technologies incorporated) in den Neunzigerjahren zu immensem Reichtum kam, um einmal im Leben ins All zu fliegen. Diesen Wunsch erfüllte sie sich mit Hilfe der Russen, die für eine Subventionierung ihrer Raumfahrtmissionen offen für Neuerungen sind. Nachdem Ingenieurin Ansari monatelang als Ersatz für den Astronauten Daisuke Enomoto trainierte, wurde der Japaner plötzlich krank und ein Platz an Bord der Sojus TMA-9 frei. Ansari hob am 18. September 2006 vom Weltraumbahnhof in Baikonur ab, um nach 48 Stunden Flugzeit neun Tage in der Internationalen Raumstation (ISS) zu verbringen. Regisseur Christian Frei begleitet Ansaris Egotrip hautnah und beleuchtet das Thema aus verschiedenen Perspektiven. Doch eine naheliegende, möglicherweise unkritische Zelebration der Raumfahrt im Allgemeinen und des Weltraumtourismus im Besonderen, liefert Frei nicht ab – obwohl ihn zweifelslos die Faszination für die Forschung fern unseres Planeten gepackt hat.

    „Space Tourists" ist vielschichtig und überrascht mit Doppelbödigkeit. In einem weiteren Handlungsstrang lässt Frei den weltraumbegeisterten Star-Fotografen Jonas Bendikson das Geschehen kommentieren. Der Norweger ging in diesem seltsam anachronistischen „Raumfahrt-Fossil Baikonur" auf Entdeckungsreise und fing unglaubliche Bilder ein. In der Ödnis Kasachstans scheint die Zeit stillzustehen. Nicht nur die Infrastruktur wirkt zumindest antiquiert, auch die Ausrüstung der Kosmonauten scheint den Sechziger- und Siebzigerjahren zu entstammen. Bei diesem permanenten Improvisieren ist es ein Wunder, dass überhaupt jemand ins All abheben kann. Dieser Gegensatz zwischen der hochtechnisierten Raumfahrt und der verstaubt anmutenden Ausstattung vor Ort übt bereits an sich eine große Faszination aus. Doch was „Space Tourists" aus der Masse von guten Dokumentationen heraushebt, ist Freis dritter Erzählstrang.

    Wahrscheinlich stellen sich wenige Menschen überhaupt diese Frage: Was passiert eigentlich mit den Raketenstufen, die nach dem Start einer Raumfähre abgetrennt werden? Sie verglühen in der Atmosphäre? Mitnichten! Ein Großteil fällt auf die Erde zurück - weshalb die Amerikaner ihren Startplatz für All-Missionen im strategisch günstig gelegenen Florida gewählt haben. So stürzen die Trümmerteile einfach in den Atlantik. Bei den Russen sieht das ganz anders aus. Der Weltraumbahnhof Baikonur liegt Tausende Kilometer von Ozeanen entfernt. Deshalb krachen die havarierten Überbleibsel der Raumschiffe zumeist in die offene Steppe. Und hier hat sich Christian Frei an die Seite einer Art Untergrundguerilla geschlichen und begleitet einheimische Schrottsammler bei der Arbeit. Mit mehreren alten Armee-Lkw rücken die Männer an und suchen nach den Raketenüberresten, die vom Himmel donnern. Da in der Raumfahrt nur die besten Materialen überhaupt verwendet werden, lässt sich der hochwertige Schrott prima nach China verhökern, um sich ein kleines Stück des Kuchens zu sichern. Regisseur Frei taucht ein in die bisher nie gesehene Welt der Schrottverwerter und fördert bizarre Bilder zu Tage. Da wird auch mal ein altes Triebwerk aus sündhaft teurer Speziallegierung zu einem simplen Kochtopf umfunktioniert oder einige Dorfbewohner schnappen sich kurzerhand Metallteile von Raketen, um ihre Dächer damit auszubessern.

    Frei fördert nicht nur erstaunliche Details zu Tage, sondern er zeigt auch ein untrügliches Gespür für die besondere Stimmung an diesem abgelegenen Ort. Die technikfremde Lagerfeuerromantik, in der eine Truppe professioneller Schrottsammler ein zünftiges russisches Cowboy-Frühstück mit einem Kanten Brot, einer richtigen Marlboro (keine Light-Version) und einem Schluck Wodka aus der Pulle genießt, um sich auf die kräftezehrende Aufgabe - die sogenannten „Rüben" zu bergen und zu zerlegen - einzustimmen, entwickelt dabei eine sogartige Atmosphäre. Schnell entsteht beim Betrachter der Wunsch, mehr davon zu sehen. Und überraschenderweise bedient Christian Frei dieses Verlangen, weil er dem Phänomen wahrscheinlich selbst erlegen ist.

    Aus einer Dokumentation über Weltraumtourismus wird nach und nach eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex, die zwar weiterhin die Anziehungskraft der Raumfahrt vermittelt, aber den Mythos mit den Geschichten am Boden entzaubert. Diese atemberaubend stimmungsvollen Bilder der Schrottsammler in Aktion strahlen dafür - brillant untermalt von Jazzklängen Jan Garbareks - pure Poesie aus. Die wunderbare Ambivalenz, dass die epische Wirkung nicht von dem eigentlich dafür prädestinierten Raum außerhalb unserer Welt ausgeht, sondern von einem Ort, an dem Derartiges kaum zu vermuten gewesen wäre, ist überraschend und somit spannend. Durch diese Entdeckung lässt sich auch leicht verschmerzen, dass Frei gegen Ende ein wenig den Fokus verliert und nicht mehr genau weiß, was denn nun das Zentrum seines Films sein soll.

    Fazit: Filmemacher Christian Frei gelingt in seiner beim Sundance Festival mit dem Regiepreis bedachten Dokumentation „Space Tourists" eine spektakuläre Reise in fremde Welten. Grandiose, poetische Bilder schaffen eine einzigartige Atmosphäre, die kleine strukturelle Mängel schlicht überstrahlen.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top