Sabine Kuegler ist als Tochter eines Sprachforschers im Dschungel von West-Guinea aufgewachsen. Diese Erfahrung hat sie in dem autobiographischen Roman „Dschungelkind" verarbeitet, der 2005 in den Handel kam und sich bald zum Bestseller mauserte (und 2007 mit „Ruf des Dschungels" eine Fortsetzung nach sich zog). Sechs Jahre später hat sich nun „14 Tage lebenslänglich"-Regisseur Roland Suso Richter dieses Ethno-Drama vorgenommen, um die Folgen einer kulturellen Isolation in der Fremde zu untersuchen. Wie verändern sich die Menschen durch die ungewohnte Umgebung? In bestechenden Bildern umgeht Richter viele Klischeefallen, kann aber letztlich einige Allgemeinplätze und Ansätze von Ethno-Kitsch nicht ganz vermeiden.
Der Linguist Klaus Kuegler (Thomas Kretschmann) zieht mitsamt seiner Familie 1980 in den Dschungel von West-Guinea, um dort die Sprache eines abgeschieden lebenden Eingeborenenstammes zu erforschen. Er hat mit dem Stammeshäuptling der Fayu ein Abkommen getroffen, weshalb er innerhalb der Gemeinschaft geduldet wird und nahe der Kolonie mit seiner Familie in einem Haus leben darf. Nur die Einmischung in ihre Angelegenheiten verbieten sich die primitiven Wilden. Kueglers Frau Doris (Nadja Uhl) will sich eine derartige Politik des Wegsehens aber nicht aufzwängen lassen. Schon bald sieht sie sich gedrängt, ins Dorfleben einzugreifen. Die achtjährige Tochter Sabine (Stella Kunkat, später: Sina Tkotsch) ist im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Judith (Milena Tscharntke) viel aufgeschlossener gegenüber dieser so fremden Welt. Ihr jüngerer Bruder Christian (Tom Hoßbach, später: Sven Gielnik) bekommt die ethnischen Gegensätze sowieso nur am Rande mit. Aber Sabine integriert sich schnell und findet erste Freunde. Dennoch lassen die Konflikte zwischen Gästen und Einheimischen nicht lange auf sich warten. Schlimmer noch: Die Familie gerät zwischen die Fronten eines blutigen Stammeskrieges...
Roland Suso Richter kehrt nach einem Jahrzehnt der berühmt-berüchtigten TV-Eventfilme („Der Tunnel", „Dresden - Das Inferno", „Das Wunder Von Berlin", „Mogadischu") ins Kino zurück, wo er Ende der Neunzigerjahre einige Achtungserfolge (etwa „Nichts als die Wahrheit (Nichts als die Wahrheit)") feierte. Vielleicht hatte er die Nase voll davon, dass komplexe Stoffe häufig für die breite Fernsehmasse heruntergebrochen werden müssen, um erfolgreich zu sein. Aber ganz legt er diese TV-Manierismen nicht ab, was aber keineswegs heißt, dass „Dschungelkind" deshalb gleich im trivialen Fahrwasser von zum Beispiel „Die weiße Massai" mitschwimmen würde.
Die wahre Geschichte nach der Autobiografie von Real-Dschungelkind Sabine Kuegler bietet prächtigen Stoff für episches Kino, was Richter und seine KamerafrauHolly Fink („Romy", „Blueprint") für ausschweifende Dschungelpanoramen nutzen und diese später beim Deutschlandbesuch der Familie effektiv konterkarieren, um das Fremdeln der Kuegler-Kinder in der fernen Heimat zu illustrieren. Aus dem eigentlich zeitlich befristeten Projekt, im Dschungel West-Guineas Studien zu betreiben, resultiert eine Verwurzelung der Familie im Urwald. Vater Klaus verliert seine Forschung irgendwann komplett aus den Augen und die mit acht Jahren „verpflanzte" Seele Sabines fühlt sich plötzlich nur im Exil wohl, weil sie dort ihre soziale Entwicklung inklusive einer innigen Freundschaft zum lokalen Außenseiter Auri (Felix Tokwepota, später: Emmanuel Simeon) durchlebt hat.
Richter vermeidet zunächst naheliegende Culture-Clash-Klischees, indem er die beiderseitigen Einflüsse nicht überhöht, sondern moderat darstellt - weder werden die Eingeborenen „verwestlicht" noch die Kueglers „verwildert". Beide Parteien behalten ihre Wurzeln. So hält Mutter Doris ihre Nichteinmischungspolitik nicht durch und schreitet ein, wenn ihr gesunder Menschenverstand Alarm schlägt. Ihr Handeln bleibt nachvollziehbar und stößt auch an Grenzen. Nadja Uhl („Lautlos", „Sommer vorm Balkon") ist das moralische Herz des Films, das Publikum kann sich mit ihrem Handeln und Tun am ehesten identifizieren. Die beste schauspielerische Leistung liefert mit ihrer Natürlichkeit und erstaunlichen Ausstrahlung jedoch Stella Kunkat („Die Flucht") als junge Sabine. Als Kunkat im Film altersbedingt durch Sina Tkotsch („Groupies bleiben nicht zum Frühstück") ersetzt wird, erlebt der Charakter einen spürbaren Bruch.
Dramaturgisch handelt sich Richter mit seiner episodenhaften Struktur ein mittelschweres Problem ein. Mit schwarzgeblendeten Zwischentiteln („Unser Heim", „Der Fluch", „Der erste Krieg") unterteilt der Regisseur seine einzelnen Kapiteln, was besonders zu Beginn, wenn diese Technik allzu exzessiv im Drei- bis Fünf-Minuten-Takt eingesetzt wird, negativ auffällt. Diese TV-hafte Vorwegnahme der Ereignisse wirkt wie ein Vorkauen des Geschehens. Das Dilemma: Ohne diese Einteilung verlöre „Dschungelkind" weiter an Struktur, welche die in Episoden angelegte Handlung zunächst nicht von selbst hergibt. Je weiter der Film voranschreitet, desto länger werden die Intervalle und irgendwann hat man sich daran gewöhnt und stört sich nicht mehr so sehr daran. Auch die Erzählstimme Sabine Kueglers aus dem Off ist ein nicht sehr elegantes Mittel, um Struktur zu erzeugen. Außerdem wird es dem Zuschauer so abgenommen, selbst über das Gesehene nachzudenken.
Am interessantesten und stärksten ist „Dschungelkind" im Mittelteil, wenn die Kueglers tief in die neue Umgebung versunken sind und ein gutes Gefühl für die gegensätzliche Kulturen entwickelt haben. Auch hier ist Sabine Kuegler der zentrale Charakter, an dem die Geschichte aufgehängt ist. Thomas Kretschmann („King Kong", „Der Pianist") als Vater ist nur eine Randfigur, vermittelt aber glaubhaft seine Hilflosigkeit, wenn ihm als Familienoberhaupt das Heft des Handelns sukzessive aus der Hand gleitet. Schade, dass dieser stimmige Abschnitt gegen Ende doch noch dem Kitsch („Ich habe erkannt, dass ich in meinem Herzen immer ein Dschungelkind bleiben werde.") weichen muss.
Fazit: „Dschungelkind" gewinnt durch wundervolle Bilder vor exotischer Urwaldkulisse. Besonders die darstellerischen Leistungen von Stella Kunkat und Nadja Uhl gefallen, was die strukturellen Unebenheiten und das kitschige Schlussdrittel weitestgehend ausgleicht.