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    Le Havre
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Le Havre
    Von Tatiana Rosenstein

    Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki ist vor allem für seinen schwarzen Humor und Sarkasmus bekannt – und dafür, sich Zeit zu lassen. In den vergangenen zwölf Jahren hat er bloß drei Filme fertig gestellt: „Der Mann ohne Vergangenheit" von 2002, „Lichter der Vorstadt" von 2006 und jetzt „Le Havre". Während des Filmfestivals 2011 in Cannes, wo Kaurismäki seinen aktuellen Film präsentiert hat, bekundete der Regisseur, mit der Zeit älter und sensibler geworden zu sein. Deshalb versprach er, von jetzt an nur noch positive Geschichten zu erzählen. In der Tat erinnert „Le Havre" mit seinen zwei Happy Ends mehr an ein Märchen als an eine typische Tragikomödie à la Kaurismäki – wobei auch der alte Kaurismäki immer noch mit seinen üblichen Anspielungen auf Nouvelle-Vague-Vertreter wie Jean-Pierre Léaud und Jean-Luc Godard auftrumpft. Auch in den verlangsamten Dialogen, den theatralisch aufwändigen Szeneninszenierungen und der malerischer Bildgestaltung wird die Handschrift des Filmemachers offenbar.

    Der ehemaliger Schriftsteller Marcel Marx (André Wilms) zieht aus den Pariser Künstlerkreisen in die kleine französische Hafenstadt Le Havre. Durch diesen Wechsel verspricht er sich näher am Menschen zu sein. Dafür wählt er einen unspektakulären, jedoch seiner Meinung nach noblen Beruf des Schuhputzers und versucht, ein bescheidendes Leben in einem armen Fischerquartier zu führen. Doch dann muss seine tödlich erkrankte Frau Arletty (Kati Outinen) ins Krankenhaus. Trotz der Sorge um seine Gemahlin beginnt Marx weitere Abenteuer - die Stadt Le Havre ist ein Treffpunkt illegaler Einwanderer und so kreuzen sich seine Wege eines Tages mit denen eines afrikanischen Jungen (Blondin Miguel) auf der Flucht vor der Polizei. Der Schuhputzer hat Mitleid und will dem Kind helfen. Die Aufgabe erweist sich jedoch als besonders schwierig, denn der Kleine träumt er davon, über La Manche den Kanal zu überqueren und zu seiner in London lebenden Mutter zu gelangen. Gemeinsam mit den Nachbarn gelingt es Marx, das Kind zu verstecken, das Geld für die Reise mit einem wohltätigen Konzert des lokalen Folkrock-Stars Little Bob (spielt sich selbst) zu beschaffen. Doch Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin) ist der bunten Truppe bereits dicht auf den Fersen...

    Bevor Kaurismäki mit dem Dreh im März 2010 anfing, machte er eine lange Reise von Italien über Spanien und Portugal bis zum Golf von Biskaya. Sein letzter Reiseabschnitt führte ihn nach Le Havre. Die Stadt imponierte dem wählerischen Filmemacher mit ihrer Ungepflegtheit und Einsamkeit – zwei Eigenschaften, die der Pessimist Kaurismäki schätzt. Hier wurde er vor allem von einem Flüchtlingslager beeindruckt, das er auch in seine Filmszenerie einbaut. Den Film drehte er in französischer Sprache mit französischen Schauspielern. Dennoch wollte er unter keinen Umständen auf seine finnischen Lieblinge verzichten – vor allem Kati Outinen und den Hund Laika aus der fünften Generation einer „Schauspielerfamilie". Laikas tritt als treue Wächterin des kleinen Flüchtlingsjungen auf, Kati Outinen derweil musste eine Fremdsprache erlernen.

    Obwohl der Film mit den Themen illegaler Einwanderung und sozialer Gefälle ein realistisches Werk zu sein scheint und sich leicht als Anspielung auf die Filme der Dardenne-Brüder mit ihrer Vorliebe für die Nöte der kleinen Leute lesen lässt, erzeugt er letztendlich – wie von Kaurismäki versprochen – eine ganz andere, absolut märchenhafte Atmosphäre. Dafür sorgt auch sein erprobtes Stammteam, allen voran Kameramann Timo Salminen und Cutter Timo Linnasalo. Die grau-blauen Grundfarben seiner Bilder werden durch rote Kamertöne à la Yasijiro Ozu belebt. Die Szenenabläufe sind fast zu langsam für eine moderne Kinematographie. Kaurismäkis gestalterischer Minimalismus spiegelt sich in der Anleitung seiner Darsteller, deren hochpräzises Körperspiel und deren subtile Mimik ausdrucksstärker ist, als es mit Worte möglich gewesen wäre.

    Mit wenigen und knapp gehaltenen Dialogen, die mit altmodisch-verlangsamter Aussprache hervorgebracht werden, wird die hypnotische Atmosphäre weiter intensiviert. Und jederzeit ist der „neue" Kaurismäki zu vernehmen - wenn die kleinen Menschen am Rand der Gesellschaft früher fielen, dann mit reichlich finnischer Melancholie bis in den Abgrund. In „Le Havre" lernen sie endlich, sich zu verteidigen und auf eine bessere Zukunft hoffen. Vielleicht wurde der Film aus diesem Grund als Favorit des Filmfestivals in Cannes gefeiert. Die Palme d'Or ging zwar an Terrence Malicks „The Tree of Life", immerhin aber wurde „Le Havre" mit dem Preis des internationalen Filmkritikerverbands (FIPRESCI) für den Besten Film ausgezeichnet.

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