Die Geschichte der 47 Ronin, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts trotz der Übermacht des Feindes den Tod ihres Herrn rächten und seitdem als Sinnbild für die bedingungslose Treue der Samurai gelten, wurde nicht nur wiederholt von japanischen Filmemachern aufgegriffen (etwa in der zweiteiligen Verfilmung von Kenji Mizoguchi aus dem Jahr 1941), sie ist in ihrer Heimat auch heute noch allgegenwärtig: sogar als Edition von Hello Kitty! Als wir im Rahmen unseres Interviews mit Keanu Reeves in Tokio auch das Grab der 47 Ronin besuchten, kamen dort schon früh am Morgen viele Einheimische zusammen, um den Toten ihren Respekt zu erweisen. Nun hat schließlich auch Hollywood den faszinierenden japanischen Nationalmythos für sich entdeckt: Der von Ridley Scott geförderte Werbefilmer Carl Erik Rinsch formt ihn in seinem ersten Kinofilm „47 Ronin“ zu einem aufwändigen 200-Millionen-Dollar-Fantasy-Epos, wobei er mit gewaltigen Sets aufwartet und der nicht gerade erbaulich endenden Originalstory abgesehen von der Zugabe fantastischer Kreaturen unerwartet treubleibt. Damit ist „47 Ronin“ der neben „Titanic“ teuerste Film aller Zeiten ohne Happy End – eine solche Konsequenz hätten wir im berechnenden Hollywood von heute kaum noch für möglich gehalten.
Nachdem er unter dem Einfluss von schwarzer Magie vor den Augen des Shoguns Tsunayoshi (Cary-Hiroyuki Tagawa) sein Schwert gegen seinen Widersacher Lord Kira (Tadanobu Asano) erhoben hat, bleibt Lord Asano (Min Tanaka) nur noch ein ehrenvoller Ausweg: Seppuku, also ritueller Selbstmord! Die 47 nun herrenlosen Samurai (= Ronin) des Lords beschließen daraufhin, unter der Führung von Oishi (Hiroyuki Sanada) blutige Rache an Lord Kira und seinen Verbündeten zu üben. Unterstützung erhalten sie dabei von dem Halbblut Kai (Keanu Reeves), das die Samurai bisher nie als gleichrangig akzeptiert haben, das aber weiß, wo dringend benötigte Waffen herzubekommen sind. Bei den Vorbereitungen für die Stürmung der Festung des scheinbar übermächtigen Feindes müssen sich die Ronin jedoch nicht nur vor Lord Kiras Mannen und seiner verschlagenen Hexe Mizuki (Rinko Kikuchi) in Acht nehmen, sondern sich auch noch mit Piraten und allerlei fantastischen Fabelwesen herumschlagen...
Der lobenswerte Mut und die seltene Konsequenz der Macher hat sich allerdings an den Kinokassen einmal mehr nicht ausgezahlt - ganz im Gegenteil: Trotz seines imposanten Budgets stieg „47 Ronin“ mit einem Einspielergebnis von nur 9,9 Millionen Dollar am ersten Wochenende lediglich auf dem neunten Platz der US-Kinocharts ein. Damit ist der 200-Millionen-Film schon jetzt einer der größten finanziellen Flops in der Geschichte Hollywoods. Aber was soll‘s: Trotz der dem aktuellen Fantasy-Trend geschuldeten computeranimierten Drachen und dem als vermeintliche Identifikationsfigur für das Publikum in Amerika und Europa in die japanische Geschichte geschmissenen Keanu Reeves ist „47 Ronin“ eben keine auf pure Massentauglichkeit ausgelegte Action-Unterhaltung. Stattdessen fühlt sich der Film über weite Strecken an, als ob Regisseur Rinsch das Projekt gekapert hätte und statt eines stromlinienförmigen Hollywood-Blockbusters ein weitgehend originalgetreues japanisches Epos drehen wollte, wofür er hinter den Kulissen auch einiges an Druck seitens des Studios aushalten musste.
So erinnert zum Beispiel direkt die Eröffnungssequenz, in der es die 47 Samurai des Shogun mit einem drachenartigen Ungetüm aufnehmen, weniger an Peter Jacksons Version von Mittelerde als vielmehr an die Realverfilmung eines Anime von Hayao Miyazaki („Prinzessin Mononoke“). Auch die Besetzung fast ausschließlich mit japanischen Stars wie Hiroyuki Sanada („Wolverine: Weg des Kriegers“) oder Rinko Kikuchi („Pacific Rim“) macht zwar die weltweite Vermarktung nicht leichter, trägt aber zum authentischen Charakter des Films bei. Und wo Tom Cruise in „Last Samurai“ noch tatsächlich als Identifikationsfigur für ein westliches Publikum in einer fernöstlichen Geschichte fungierte, verkörpert Keanu Reeves („Matrix“) hier von vornherein eine durch und durch japanische Figur: Das weiße Halbblut Kai sieht zwar aus wie ein Westler, wurde aber in Japan geboren und ist nach dem Kodex der Samurai aufgewachsen, weshalb es sich auch streng an die Traditionen hält und keinesfalls zum typischen Hollywood-Helden mutiert (in der ersten Fassung des Films war Kai sogar kaum mehr als eine Nebenfigur, bevor das Studio Nachdrehs anberaumte, um Reeves zumindest ein wenig mehr ins Zentrum zu rücken.)
Dieser in seiner Radikalität durchaus bewundernswerte Ansatz hat aber einen großen Nachteil, denn während man die Filmemacher für ihre Treue zur japanischen Kultur beglückwünscht, ist das Ergebnis nun eben auch sehr kühl geraten. Es gehört zum Verhaltenskodex der ehrenvollen Krieger, Gefühle nicht zu zeigen, dem zollt Rinsch Respekt, indem er lange Zeit auf jede offene Emotionalität verzichtet. So schwimmt „47 Ronin“ nicht wie von den Studioverantwortlichen erhofft im Fahrwasser von mitreißenden Fantasy-Blockbustern wie „Der Herr der Ringe“ mit, sondern fällt streckenweise fast schon in den Bereich des eher kopflastigen Arthouse-Kinos. Was wiederum nicht heißt, dass es keine Schauwerte gibt, vielmehr kommt man aus dem Staunen gelegentlich nicht heraus: Nachdem er die Originalschauplätze in Japan als historisch nicht mehr akkurat genug eingeschätzt hat, nutzte Regisseur Rinsch das unerhört hohe Budget, um riesige Sets in Europa errichten zu lassen, was sich besonders im großen Finale in Lord Asanos Burg auszahlt. Während die realen (Nach-)Bauten mächtig Eindruck schinden, sind die aus dem Computer hinzugefügten Effekte allerdings nur ordentlicher Durchschnitt, was wohl auch daran liegen dürfte, dass der Start des nahezu fertigen Films wiederholt verschoben wurde: Im Bereich der digitalen Effekten machen zwei Jahre eben schon eine ganze Menge aus.
Fazit: „47 Ronin“ ist ein konsequent düsteres, überraschend authentisches, aber oft auch emotional unterkühltes Epos mit fantastischen Schauwerten.