In der März 2000 erschienenen Ausgabe des Esquire-Magazins sollte sich Martin Scorsese, der von Kritikern regelmäßig zum besten noch lebenden amerikanischen Filmemacher gekürt wird, Gedanken darüber machen, wer das Zeug dazu hat, der nächste Martin Scorsese zu werden. Die Wahl des talentierten Italoamerikaners fiel auf den Texaner Wes Anderson, der bis dato nur zwei Filme inszeniert hatte, die aber beide damals bereits Kultstatus im Independent-Kino genossen: „Durchgeknallt“ (1996) und „Rushmore“ (1998). Der 1,85 Meter große Brillenträger hat sich seitdem als ein ausgesprochen kreativer Autor, Regisseur und Produzent von Lang- und Kurzfilmen profiliert, der mit seiner unverwechselbaren Handschrift vielleicht mehr als jeder andere Filmemacher seiner Generation den Status eines Auteurs beanspruchen darf. Zu den Markenzeichen seiner spleenigen, detailreichen Tragikomödien über skurrile Verlierertypen zählen unter anderem komplexe Mise-en-scénes, ein amerikanischer Folk-Rock- und britischer Rock-Soundtrack und ein sehr trockener Humor, der tiefphilosophische Beobachtungen mit albernem Slapstick paart.
Vom Philosophiestudenten zum Independent-Darling
Wesley Wales Anderson ist der Sohn eines Werbefachmanns und einer Archäologin und wuchs in Houston auf. Im Anschluss an die Highschool studierte er Philosophie an der Universität von Texas in Austin, wo er sich mit seinem Zimmergenossen Owen Wilson anfreundete. Währen Anderson seinen B.A.-Abschluss anstrebte, schrieben beide an dem Drehbuch zu dem Kurzfilm „Bottle Rocket“ (1992 gedreht und 1994 veröffentlicht), den sie 1996 zu einem gleichnamigen abendfüllenden Spielfilm (deutscher Titel: „Durchgeknallt“) ausbauten. In der schrägen Gaunerkomödie spielen Owen und sein Bruder Luke Wilson zwei ungleiche Freunde, die einen Coup mithilfe des Ganoven Mr. Henry (James Caan) planen. Bereits in diesem Film findet sich Andersons Faible für gesellschaftliche Außenseiter mit kindlichem Gemüt, die eine unnahbare Vaterfigur beeindrucken wollen. Auch an Andersons nächsten zwei Filmen, die unorthodoxe Coming-of-Age-Liebeskomödien „Rushmore“ (1998) und „Die Royal Tenenbaums“ (2001) schrieb Owen Wilson am Skript mit, während Luke Wilson kleine Rollen übernahm. Zusammen mit anderen Darstellern formte sich so langsam auch eine treue Schauspielertruppe um Anderson, auf die er wiederholt zurückgreift.
Von inkompetenten Strebern zu lebensfremden Genies
Angefangen mit Wes Andersons erstem Achtungserfolg „Rushmore“ etablierte sich vor allem der frühere „Ghostbusters“-Star Bill Murray als zentraler Stammspieler in Andersons Star-Ensemble: Neben Talias Shires Sohn Jason Schwartzman in der Hauptrolle eines unsympathischen Schulopportunisten glänzte Murray in der nicht minder exzentrischen Rolle eines egoistischen Industriellen, der mit dem Helden um die Gunst von dessen Lehrerin (Olivia Williams) konkurriert. Anderson fand hier erstmals auch zu seinen atemberaubend detailreichen Breitwandkompositionen, in denen die Figuren in ihrer Umgebung fast untergehen. Wie bei „Durchgeknallt“ arbeitete er auch diesmal mit dem Stammkomponisten Mark Mothersbaugh und Stammkameramann Robert D. Yeoman zusammen. Andersons Interesse für das Treffen sozial ungleicher Gesellschaftsschichten, dysfunktionale Familienbanden und gestörte Liebesbeziehungen kam auch in der mit Gene Hackman, Anjelica Huston, Ben Stiller und Gwyneth Paltrow hochkarätig besetzten Familienkomödie „Die Royal Tenenbaums“ über eine Familie voller Genies und egoistischem Vater zum Tragen. Der Lohn hierfür war die erste Oscar-Nominierung für das beste Original-Drehbuch.
Von den Tiefseetauchern über Indien in die Fuchshöhle
Beim Dreh zu der mit u.a. Bill Murray, Owen Wilson, Cate Blanchett, Jeff Goldblum und Willem Dafoe starbesetzten Komödie „Die Tiefseetaucher“ über die phantastischen Abenteuer des unorthodoxen Naturfilmers Steve Zissou vollzog Wes Anderson auch eine äußerliche Wandlung. Er legte seine Brille ab, trieb mehr Sport, ließ sich seine Haare lang wachsen und holte sich eine braune Haut in der Südsee. Der Film erwies sich aber als ein ebenso großer Misserfolg bei der Kritik wie seine in Indien spielende Komödie „Darjeeling Limited“ (2007) mit Jason Schwartzman, Adrien Brody und Owen Wilson als ungleiche Brüder auf der Suche nach neuem Lebenssinn. Als Prolog zu diesem Film, den Anderson als eine Hommage an seinen Lieblingsregisseur Satyajit Ray („Pather Panchali“) verstand, drehte er den Kurzfilm „Hôtel Chevalier“ mit einer ungewohnt freizügigen Natalie Portman. Mehr Anerkennung erhielt er in dieser Zeit als Produzent des mit Jeff Daniels und Laura Linney besetzten Scheidungsdramas „Der Tintenfisch und der Wal“ unter der Regie seines gelegentlichen Co-Autors Noah Baumbach. Mit ihm schrieb er auch am Skript zu seinem nächsten Film, dem Stop-Motion-Kultfilm „Der fantastische Mr. Fox“.
Von philosophischen Füchsen zurück zu jungen Querdenkern
Für den Kassen- und Kritikererfolg „Der fantastische Mr. Fox“, die Adaption des gleichnamigen Roald-Dahl-Kinderbuchklassikers mit George Clooney, Meryl Streep und natürlich auch Bill Murray in den Hauptsprechrollen, gab es eine weitere Oscar-Nominierung für Wes Anderson, diesmal für den besten Animationsfilm. Auf die schräge Geschichte eines zivilisierten Fuchsfamilienvaters, der sich bei der Hühnerjagd die existentielle Frage stellt, ob er seiner tierischen Natur folgen soll oder nicht, und damit den Groll dreier schießwütiger Bauern auf sich und seine Artgenossen zieht, soll mit „Moonrise Kingdom“ wieder ein Coming-of-Age-Realfilm im Stil von „Rushmore“ folgen. Hochkarätig besetzt mit u.a. Bruce Willis, Edward Norton, Tilda Swinton, Frances McDormand, Harvey Keitel und Bill Murray, dreht sich die von Roman Coppola mitverfasste Abenteuerkomödie um ein kindliches Paar, das in den 1960er Jahren aus einem Pfadfinderlager flieht und fortan von ihren Eltern, den Pfadfinderführern und der Polizei verfolgt wird.