+++ Meinung +++
Todd Phillips' „Joker“ mit dem deutschen Oscar-Beitrag „Systemsprenger“ zu vergleichen, scheint zugegebenermaßen schon etwas weit hergeholt. Immerhin handelt es sich bei ersterem um einen rauen und blutrünstigen Thriller mit Comic-Wurzeln im Stil von „Taxi Driver“ und bei letzterem um ein berührendes, nur punktuell filmisch stilisiertes Sozialdrama. Dennoch haben die beiden Filme mehr gemeinsam als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Sowohl in „Systemsprenger“ als auch in „Joker“ steht eine Figur im Mittelpunkt, die von Kindheits-Traumata gezeichnet ist und deren Leben von Ablehnung und Einsamkeit geprägt ist.
Der große Unterschied ist jedoch, dass die Gesellschaftskritik in „Systemsprenger“ nachhaltig wirkt und selbst lange nach dem Kinobesuch nachdenklich stimmt, während sie in „Joker“ zahnlos und unscharf daherkommt und eigentlich nur die Frage aufwirft, was Todd Phillips denn nun eigentlich mit seinem Film sagen will.
So wurde mir auch erst nach meinem Besuch einer „Systemsprenger“-Vorstellung wirklich bewusst, warum genau die sozialkritische Ebene in „Joker“ so überhaupt nicht für mich funktioniert.
Gotham verdient den Joker
Arthur Fleck erlebt auf seinem Weg vom gebeutelten Fußabtreter zum Symbol der frustrierten, unterdrückten Massen einen Rückschlag nach dem anderen.
Sein großes Idol Murray Franklin (Robert De Niro) macht sich live im Fernsehen über ihn lustig, er verliert seinen Job, er kann sich seine Medikamente nicht mehr leisten und seine soziale Isolation lässt ihn immer weiter in seine Wahnvorstellungen abdriften.
Bereits als Kind wurde er von den Liebhabern seiner Mutter misshandelt und die einzige Aussicht auf Besserung ist der Milliardär Thomas Wayne, von dem er glaubt, sein Sohn zu sein. Als er Wayne auflauert und mit dieser Unterstellung konfrontiert, schlägt ihn dieser jedoch nieder.
„Joker“ schreit einem förmlich ins Gesicht, dass die Welt um Arthur herum schlecht ist. Bis zum dramatischen Finale besteht kein Zweifel daran, dass die reiche Elite um Wayne verdorben ist und es für die Unterschicht ohne Revolution keine Hoffnung gibt in Gotham.
Figuren ohne Graustufen
Die Tötung der betrunkenen Wayne-Enterprises-Mitarbeiter in der U-Bahn, die die Geschichte ins Rollen bringt, scheint dadurch gerechtfertigt. Arthur tötet, weil er bedrängt wird, und die halbe Stadt feiert ihn dafür als Helden. Im Kontext des Films sind die Wall-Street-Proleten, die er erschießt, schlicht und ergreifend abstoßende Menschen. Graustufen gibt es keine.
Thomas Wayne ist dann die größte Karikatur von allen. Der Bürgermeisterkandidat hat anscheinend auch während seines laufenden Wahlkampfs keine Bedenken, einen verwirrten, psychisch kranken Mann in einer öffentlichen Toilette zu verprügeln.
Dabei wäre es für Arthur und das Publikum doch viel niederschmetternder gewesen, hätte er Arthur bei einem ruhigen Gespräch in Wayne Manor klargemacht, dass er für ihn niemals der Vater sein kann, den er sich so dringend wünscht.
Arthurs Weg wirkt dadurch vollkommen erzwungen. Zu keiner Zeit hat man das Gefühl, die Ereignisse könnten einen anderen Ausgang haben. Die Wandlung zum Amokläufer scheint förmlich unausweichlich.
Die Tragik des Scheiterns
In „Systemsprenger“ gibt es hingegen keine wirklichen Schurken, sondern nur Menschen, die aufgrund ihrer Umstände und ihrer eigenen Unzulänglichkeiten, Ängste und psychischen Verfassung Fehler machen.
Im Zentrum der Handlung steht bei „Systemsprenger“ die neunjährige Benni (Helena Zengel), die eine Pflegefamilie nach der anderen vergrault und als extrem aggressiv und unberechenbar gilt. Im Laufe des Films versucht der Sozialarbeiter Micha (Albrecht Schuch) zu Benni durchzudringen, während die engagierte Jugendamt-Mitarbeiterin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) Himmel und Hölle in Bewegung setzt, Benni endlich ein richtiges Zuhause zu verschaffen.
Auch hier ist der Wunsch der Hauptfigur nach liebenden Eltern und der Ausbruch aus dem sozialen Elend ein zentrales Element der Geschichte. Und auch hier sieht es für einen kurzen Augenblick so aus, als könne sich für sie doch noch alles zum Guten wenden.
Gegen Ende des Films darf Benni nämlich endlich wieder bei ihrer leiblichen Mutter (Lisa Hagmeister) leben, eine Entwicklung, die sie den ganzen Film über herbeigesehnt hat. Diese realisiert dann aber, dass sie zu viel Angst vor Benni hat und der Aufgabe, sie zu erziehen, nicht gewachsen ist. Sie flüchtet vor ihrer Verantwortung und bricht damit ihrer Tochter erneut das Herz.
Wut, die bleibt
Das wirklich Grausame daran ist jedoch, dass der Film niemanden verteufelt und auch keine Patentlösung bietet. Statt Bennis Bezugspersonen als kalt und rücksichtslos zu zeigen, zeigt „Systemsprenger“ liebevolle, aber letztlich hilflose Menschen, die sich bis zum Nervenzusammenbruch aufopfern.
Der entscheidende Unterschied in der Darstellung der Tragödie eines von der Gesellschaft im Stich gelassenen Menschen ist der, dass „Systemsprenger“ seine Figuren nicht wie Werkzeuge behandelt, deren Taten gegenüber der Hauptfigur einzig und allein dazu dienen, ihren Fall herbeizuführen.
Stattdessen beobachten wir dreidimensionale Figuren, deren Verfehlungen greifbar und nachvollziehbar sind und für deren Scheitern es keinen einfachen Sündenbock gibt.
„Joker“ bietet für seine Hauptfigur keinen Ausweg an und verpflanzt diese in eine erbarmungslose Welt.
„Systemsprenger“ hingegen lässt Benni absolut jeden möglichen Ausweg nehmen und zeigt auf, wie sich einer nach dem anderen als Sackgasse herausstellt.So bleibt am Ende auch beim Publikum nichts mehr als Hoffnungs- und Ratlosigkeit.
„Joker“ und „Systemsprenger“ laufen derzeit in den deutschen Kinos.
Der härteste Film 2019: Wie mir "Systemsprenger" den Boden unter den Füßen wegriss