Aktuell finden die Filmfestspiele von Venedig statt und Netflix ist dort in aller Munde. Denn nachdem beim bedeutendsten Filmfestival der Welt in Cannes nach einem Streit zwischen den Veranstaltern und Netflix kein einziges Werk des Streaming-Dienstes gelaufen ist, ist das Programm des zweitbedeutendsten Filmfestivals voll davon. Trotz massiver Proteste von Arthouse-Kino-Organisation laufen gleich sechs Netflix-Filme, darunter Werke wie Alfonso Cuarons möglicher Oscar-Hit „Roma“, der Western „The Ballad Of Buster Scruggs“ von den Coen-Brüdern oder Orsons Welles‘ finaler, dank Netflix nun endlich fertiggestellter Film „The Other Side Of The Wind“.
Doch damit nicht genug: Auch im Begleitprogramm steht Netflix im Mittelpunkt. So sprachen unter anderem die Regisseure David Cronenberg und Spike Lee in einer Diskussionsrunde über die Zukunft des Kinos in Zeiten von Netflix & Co. An ihrer Seite saß aber auch Kostümdesignerin Sandy Powell. Die dreifache Oscarpreisträgerin (für „Shakespeare In Love“, „Aviator“ und „The Young Victoria“) arbeitete zuletzt an einem der meistdiskutierten Netflix-Filme: „The Irishman“ von Martin Scorsese mit den Schauspiellegenden Al Pacino, Robert De Niro, Joe Pesci und Harvey Keitel. Und sie äußerte sich überraschend skeptisch über den eigenen Film.
Massives Risiko
Bekanntlich spielt „The Irishman“ über einen Zeitraum von mehreren Dekaden. Statt mehrere Schauspieler für ein- und dieselbe Rolle in verschiedenen Altersstufen zu casten, hat sich Martin Scorsese entschieden, seine Stars mit modernster Computertechnologie um teilweise über 30 Jahre zu verjüngen. Doch wird das über einen ganzen Film funktionieren? „Es ist ein massives Risiko“, sagte Powell laut dem Hollywood Reporter dazu.
Denn alle Beteiligten sind sich unsicher, wie das Ergebnis ausfallen wird: „Wir wissen nicht, ob es funktionieren wird. Wir hoffen, dass es funktionieren wird.“ Ihr kommt dabei eine wichtige Rolle zu, denn nicht alle Verjüngungen erfolgen am Computer, teilweise muss sie wohl auch mit ihren Kostümen dazu beitragen.
Selbst 140 Millionen Budget sind nicht genug
„Ich muss die Körper ganz ohne Technologie verjüngen“, so Powell. Denn obwohl aufgrund Scorseses Wunsch, dieselben Schauspieler zu nutzen, das Budget auf satte 140 Millionen Dollar angewachsen ist, sei das nicht genug. Das Geld reiche erst einmal nur, um die Gesichter und die Hände der Schauspieler jünger zu machen, so die Kostüm-Designerin laut dem Hollywood Reporter.
Powell hofft daher, dass sich das noch ändert: „Ich muss Männer eines gewissen Alters 30 bis 40 Jahre jünger aussehen lassen. Ich gebe mein Bestes mit der Kleidung. Wenn das nicht funktioniert und sie irgendwie noch das Geld finden, um auch an den Körpern zu arbeiten, würde ich gerne auch an der Post-Produktion mitarbeiten“, erklärte sie. Wobei die Kollegen des Hollywood Reporters zurecht anmerken, dass sie als Kostüm-Designerin wahrscheinlich keinen Zutritt in die Visual-Effects-Studios bekäme. Die Gewerkschaftsregeln sind hier bei Hollywood-Produktionen bekanntlich sehr streng.
Erstes Ergebnis beeindruckt
Man darf wegen Martin Scorseses „The Irishman“ nun durchaus etwas skeptischer sein, aber es besteht natürlich weiterhin große Hoffnung, dass wir am Ende doch einen Film bekommen, der das Niveau hat, das wir uns von der Regielegende erwarten. Zum einen wissen wir schließlich von Martin Scorseses Klasse und zum anderen liefert auch Powell noch eine hoffnungsvoll stimmenden Zusatz.
Sie habe bereits einen sechs Sekunden langen Clip gesehen: „Das Bisschen, das ich gesehen habe, sieht außergewöhnlich aus.“ Es sehe viel besser als in dem mittlerweile allerdings auch schon zehn Jahre alten „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ von David Fincher aus, in dem dieselbe Computertechnik zum Einsatz kam. Doch trotz der Begeisterung für diesen Clip bleibt Powell skeptisch: „Wir wissen einfach nicht, wie es über einen ganzen Film ausschaut.“
Darum geht es in "The Irishman"
Mit „The Irishman“ erzählt Martin Scorsese die wahre Geschichte des berühmten Mafia-Killers Frank Sheeran. Der 1920 geborene Sohn eines Iren und einer Schwedin wurde nach seinem Dienst im Zweiten Weltkrieg zuerst Fernfahrer, knüpfte dann aber durch eine Zufallsbekanntschaft bei einer Panne Kontakte zur italienischen Mafia und machte bald dort Karriere. Er wurde zum wichtigsten Auftragskiller – erst für eine Mafia-Familie und dann für den legendären Gewerkschaftsboss Jimmy Hoffa.
In den Jahren vor seinem Tod 2003 gab er dem Schriftsteller Charles Brandt zahlreiche Interviews, auf deren Grundlage Brandt das nun auch Scorsese als Vorlage dienende Buch „I Heard You Paint Houses“ (ein euphemistischer, sich auf das Spritzen des Blutes beziehender Mafia-Slangbegriff für Mord) veröffentlichte. Im Rahmen dieser Interviews gab Sheeran unter anderem zu, seinen einstigen Boss Hoffa ermordet zu haben. Das spurlose Verschwinden der schillernden Figur mit besten Beziehungen zur Politik im Jahr 1975 gehört noch heute zu den sagenumwobensten Ereignissen der US-Geschichte. Noch immer ermittelt das FBI in der Angelegenheit. Ob Sheeran wirklich der Täter ist, ist unbekannt (auch andere Mafia-Killer beanspruchten die Tat für sich), es spricht aber sehr vieles dafür.
Scorseses Film wird sich wohl vor allem auf drei Lebensabschnitte des von De Niro gespielten Sheeran konzentrieren. Wir werden die Figur wohl einmal bei ihrem Einstieg in die Mafia in ihren 30er Jahren sehen. Danach wohl noch einmal in einem Zeitraum von Anfang bis Mitte 50, als er seine bekanntesten Morde tätigte und wohl auch Hoffa umbrachte. Und dann noch einmal gegen Ende seines Lebens, womöglich in den Unterhaltungen mit Brandt, die als Rahmenhandlung dienen könnten.
„The Irishman“ wird im Laufe des Jahres 2019 weltweit auf Netflix zur Verfügung stehen.