FILMSTARTS: Mr. Vice President, was hat sich seit „Eine unbequeme Wahrheit“ 2006 verändert? Der neue Film erscheint mir optimistischer...
Al Gore: Hhm, gute Frage. Es gab zwei große Veränderungen in den vergangenen zehn Jahren. Die erste: Die Extremwetterereignisse, die im direkten Zusammenhang mit der Erderwärmung stehen, haben zugenommen, sind zerstörerischer als zuvor und fast zur Normalität geworden. Das bringt mehr und mehr Menschen zum Aufwachen. Die zweite große Veränderung: Die Lösungen sind jetzt vorhanden. Vor einer Dekade konnte man sie am Horizont erahnen, man war aber abhängig von den Technologie-Experten, die versichern mussten, dass die Nutzung erneuerbarer Energien tatsächlich kommen würde. Nun sind sie hier. Und sie werden immer billiger.
FILMSTARTS: Wer kam auf die Idee, noch einen zweiten Film zum Thema Klimawandel zu drehen?
Al Gore: Jeff Skoll, der Chef von Participant Media, Diane Weyermann, die Leiterin der Dokumentarabteilung der Firma, und ich sind seit Jahren im Gespräch. Eine Menge Leute haben uns ermutigt, einen weiteren Film zu drehen. Aber vor dem zehnjährigen Jubiläum des ersten Films hatten wir nicht das Gefühl, die Erlaubnis des Publikums zu haben, zurückzukommen und den Menschen zu erzählen, was neu ist. Und dann hat die Auswahl der neuen Regisseure, Bonni Cohen und Jon Shenk, den Stil des neuen Films beeinflusst. Die beiden haben sich dem Cinéma vérité verschrieben. Ich musste das erst mal googlen, um genau zu wissen, was es ist! So habe ich herausgefunden, dass sie mir mit ihren Kameras in meinem Nacken zwei Jahre lang folgen werden. Aber letztendlich war es eine interessante Erfahrung. [lacht]
FILMSTARTS: Sie haben sich entschlossen, Kritikpunkte zum ersten Film am Anfang des zweiten Teils einzubinden. Ist Gegenwind und Widerstand etwas, was Sie beschäftigt oder ärgert? War es wichtig, diese kritischen Reaktionen voranzustellen?
Al Gore: Die Regisseure [Bonni Cohen und Jon Shenk] haben die Entscheidung getroffen. Es ist gut, dass ich kein Recht auf den Final Cut habe. [lacht] Einer der Audiomitschnitte am Anfang war von Donald Trump, der das Nobelpreiskomitee dazu aufforderte, den Preis wieder einzukassieren. Ich war lange Zeit in der Politik, da habe ich mir eine dicke Haut zugelegt. Es ist zur Tradition geworden, den Überbringer einer Botschaft zu attackieren, wenn man diese nicht mag.
Immer noch eine unbequeme Wahrheit - Unsere Zeit läuftFILMSTARTS: Im Film präsentieren sie Lösungen für den Stopp des Klimawandels, die überwiegend technologisch sind. In Deutschland gibt es viele Diskussionen darüber, das persönliche Verhalten der Bürger zu verändern: weniger Fliegen oder weniger Fleisch essen… Warum fehlt diese Botschaft in „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“? Würde das das amerikanische Publikum überfordern?
Al Gore: Erst einmal denke ich, dass eine Verhaltensänderung ganz sicher ein Teil der Lösung des Problems ist. Aber um eine große Masse von Menschen für die Überwindung der Klimakrise zu gewinnen, ist es meiner Meinung nach wichtig, zu umweltfreundlichen Formen der Energiegewinnung und des Transports zu wechseln. Aber auch nachhaltige Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft und ein neuer Ansatz beim ausufernden Massenkonsum sind wichtig. Aber es ist wie gesagt einfacher und effektiver für uns alle, wenn wir den Wechsel zu erneuerbaren Energien und nachhaltigen Lösungen vollziehen.
FILMSTARTS: Für wie wichtig halten Sie es, weniger Fleisch zu essen?
Al Gore: Ich will nicht versuchen, Menschen über ihre Essgewohnheiten zu belehren, das ist eine persönliche Sache, die jeder selbst entscheiden muss. Ich bin seit fünf Jahren Veganer. Jeder, der mal seinen Kardiologen befragt, wird zu hören bekommen, dass es gesünder ist, weniger Fleisch zu essen. Es braucht acht Pfund Pflanzenproteine, um ein Pfund Tierproteine zu produzieren. Agrarkultur als Ganzes ist verantwortlich für etwa 15 Prozent der Klimakrise.
Zahl der Klimaflüchtlinge wird dramatisch steigen
FILMSTARTS: Der Film zeigt, dass es bereits Hunderttausende von Klimaflüchtlingen gibt und es wird bald Millionen mehr davon geben. Wird der erzeugte Druck ausreichen, um die Erste Welt dazu zu bewegen, das Klimaproblem tatsächlich zu lösen?
Al Gore: Ich denke, das passiert bereits. Aber der Druck auf die politischen Systeme, der aus diesen großen Strömen von Flüchtlingen erwächst, schlägt sich nicht immer in praktischen, logischen und verantwortungsbewussten Reaktionen nieder. Oft werden stattdessen emotionale, populistische Lösungen angeboten. Während der britischen Brexit-Bewegung zeigte ein riesiges Werbebanner mahnend eine endlose Schlange von Flüchtlingen an der Grenze der EU. Sie sahen aus, als seien sie aus dem Mittleren Osten und Nordafrika. Große Massenbewegungen von Flüchtlingen können politischen System gefährlich werden, weil es schwierig ist, rational damit umzugehen. Das ist die menschliche Natur.
Hier in Deutschland hat das Max-Planck-Institut eine Analyse erstellt, die zeigt, dass es große Gebiete im Mittleren Osten und Nordafrika gibt, die gerade aufgrund der Hitze unbewohnbar werden. Vor kurzen wurde in einer Stadt im Iran eine gefühlte Temperatur von 74 Grad gemessen. Niemand kann dort für mehr als ein paar Stunden unter diesen Bedingungen überleben – egal, wie gesund die Leute dort sind. Das sollte zu denken geben, noch größere Ströme von Flüchtlingen werden folgen. Auf der anderen Seite flüchten die Menschen in anderen Regionen auch, weil der Meeresspiegel steigt. In der Deltaebene von Bangladesch gibt es Millionen, die nach den Überschwemmungen ihr Leben alle 20 Jahre neu aufbauen mussten, jetzt hat sich dieser Intervall auf alle sechs oder sieben Jahren verkürzt. Was passiert also, wenn diese Leute zu Flüchtlingen werden? Indien hat gerade an seiner südlichen Grenze zu Bangladesch den größten Stahlzaun der Welt fertiggestellt. Die Destabilisierung, die manche befürchten, ist in vollem Gange. Und ich könnte eine Menge anderer Beispiele geben, aber der Punkt ist: Das ist ein Aspekt der Klimakrise, der bisher zu wenig Aufmerksamkeit bekam.
FILMSTARTS: 2013 hat Klimaforscher Richard Heede behauptet, dass 90 Firmen zwei Drittel der Erderwärmung auslösen. Wenn es nur eine solch kleine Anzahl von Unternehmen sind, warum ist es so schwer, sie zur Verantwortung zu ziehen?
Al Gore: Ja, ich habe diese Analyse gelesen. Die ist kürzlich auch aktualisiert worden. Und vielleicht können wir die Klimaverschmutzer mit rechtlichen Maßnahmen zur Verantwortung ziehen. Im Fall der Tabakindustrie hat das auch funktioniert. Da haben die angestrengten Gerichtsprozesse tatsächlich die Wende gebracht. Da wurde [aus den Urteilen gegen die Tabakindustrie] eine Menge Geld generiert, das für Kampagnen eingesetzt worden ist, junge Leute davon zu überzeugen, keine Zigaretten zu rauchen oder damit aufzuhören. In den USA werden weiter rechtliche Maßnahmen vorbereitet, die bisher noch keinen Erfolg hatten, aber vielleicht bald haben werden.
Donald Trump wird Klimabewegung nicht stoppen
FILMSTARTS: Als Donald Trump zum US-Präsident gewählt wurde, müssen die Dreharbeiten mehr oder weniger gerade zu Ende gegangen sein. Welchen Einfluss hatte die Wahl auf den Film?
Al Gore: Wir haben eine mögliche Wahl Donald Trumps eingeplant und wussten, dass wir den Ausgang abwarten mussten, um zu schauen, was der Gewinner tatsächlich machen würde. Und danach wollten wir uns eine Meinung dazu bilden. Also wussten wir schon bei der Premiere im Januar beim Sundance Filmfestival, dass wir den Film danach umschneiden müssen. Und auch bei der Europapremiere beim Festival in Cannes war uns klar, dass wir die bevorstehende Entscheidung Trumps zum Pariser Klimaschutzabkommen nachträglich einbinden müssen. Aber die Filmemacher haben vorsorglich Platzhalter im Film gelassen, um diese Stellen später aufzufüllen.
FILMSTARTS: Als Sie zum ersten Mal von Donald Trumps Ausstieg aus dem Pariser Abkommen gehört haben, hätten Sie da gedacht, dass ein einziger Mann die ganzen Fortschritte, die im Film gezeigt werden, zerstören kann?
Al Gore: Ich bin lange genug in diesem Geschäft, um Trumps Wahl in den richtigen Kontext zu setzen. Ich habe schon andere gesehen, die gewählt wurden und sich dazu bekannt hatten, Aktionen zum Klimaschutz zu stoppen. Es ist immer ein harter Kampf. Ich blicke aber auf die globale Bewegung und da hat es in den vergangenen Jahren viele Fortschritte gegeben, die jetzt sogar noch beschleunigt werden. Ich war aber schon sehr besorgt nach Trumps Rede über den Ausstieg der USA aus dem Pariser Abkommen und befürchtete, dass nun auch andere Nationen als Reaktion darauf folgen könnten. Aber das ist nicht passiert. Und ich war noch glücklicher, als viele Gouverneure, Bürgermeister und Firmenbosse in den USA sagten: „Nein, Donald Trump spricht nicht für uns. Wir bleiben beim Pariser Abkommen.“ Klar wäre es einfacher, das Problem zu lösen, wenn die USA und deren Präsident helfen würden, die Welt zu führen. Aber das ist nicht der Fall. Also müssen wir um Trump herumarbeiten!
FILMSTARTS: In der für mich berührendsten Szene des Films sprechen Sie mit Dale Ross, dem Bürgermeister von Georgetown, Texas. Das zeigt, dass Klimaschutz auch über die Parteigrenzen hinweg funktionieren kann. Wie sind Ihre Erfahrungen mit den Republikaner, abgesehen von Ross?
Al Gore: Interessanterweise hat zum Beispiel der Bürgermeister von Miami [Tomás Regalado], ein konservativer Republikaner, gerade angekündigt, dass ihm das Lösen der Klimakrise sehr am Herzen liegt und es nicht als politische Kontroverse gekennzeichnet werden darf. Viele Republikaner werden sich dieser Verantwortung bewusst.
„Immer noch eine unbequeme Wahrheit – Unsere Zeit läuft“ startet am 7. September 2017 in den deutschen Kinos.