Es gibt wohl kaum eine Schauspielerin, die so wandelbar ist wie Tilda Swinton. Ob als Vampirin in Jim Jarmuschs „Only Lovers Left Alive”, ordentlich gealtert in Wes Andersons „Grand Budapest Hotel”, androgyn in Sally Potters „Orlando” oder gar glatzköpfig als „die Älteste” in den Marvel-Blockbustern „Avengers: Endgame” und „Doctor Strange" – es gibt quasi nichts und niemanden, den oder die das Ausnahmetalent nicht auf die Leinwand bringen könnte.
Die einzige Prämisse, der Tilda Swinton bei ihrer Rollenwahl zu folgen scheint, ist: Je experimenteller, desto besser. Wer sich darauf einlassen will, hat heute Nacht die Gelegenheit, einem wirklich herausfordernden Filmexperiment beizuwohnen, wenn um 23.55 Uhr Apichatpong Weerasethakuls „Memoria” auf Arte läuft. Im Stream gibt es den Film aktuell nur auf MUBI oder auch im MUBI-Channel von Amazon, dessen Probeabo für 7 Tage kostenfrei ist. Danach zahlt ihr 13,99 Euro im Monat.
Der thailändische Filmemacher Apichatpong Weerasethakul gilt als einer der innovativsten Filmemacher unserer Zeit und ist bekannt für seine kontemplative, achtsame Erzählweise, die doch mit starken Bildern einhergeht. So beispielsweise in seinem „Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben”, für den er in Cannes mit der Goldenen Palme geehrt wurde. Hier thematisierte er in surrealistischer Manier die Seelenwanderung des titelgebenden Uncle Boonmee, wobei er in traumhaft-hypnotische Zustände rückt.
Poesie des Klangs
Ganz ähnlich gestaltet es sich nun auch mit „Memoria”, der unverkennbar Weerasethakuls Handschrift trägt: Jessica (Tilda Swinton) wird von einem immer wiederkehrenden, seltsamen „Bang” geplagt, das sie zunehmends auch um den Schlaf bringt. Auf der Suche nach Antworten begibt sie sich auf eine transzendentale Reise durch Kolumbien, auf der sie auf verschiedene Menschen trifft. Ein junger Tontechniker (Juan Pablo Urrego) hilft ihr dabei, das Geräusch zu fassen, die Archäologin Agnès (Jeanne Balibar) lässt Jessica an einem spektakulären Fund teilhaben, und mit einem Fischer (Elkin Díaz) teilt sie Erinnerungen und Traumata am Fluss.
Von der ersten Einstellung an entführt „Memoria” dabei in eine Klangwelt, die vor allem mit einem stetig wiederkehrenden metallischen Rumsen die Handlung vorantreibt. Ein stetes Rauschen scheint den Film zu begleiten, dazu hören wir Scheppern, Klappern, Autohupen, Vogelgezwitscher. Dabei erfordert Weerasethakuls auditives Meisterwerk höchste Aufmerksamkeit: Denn vordergründig bewegt sich oftmals beinahe nichts.
Die Einstellungen, die ebenso sorgsam komponiert sind wie die Tonebene, wirken häufig wie tableaux vivants, wie lebende Gemälde: Sehr oft sieht man Tilda Swinton sitzen und ins Off starren, aus dem Musik oder andere Geräusche hallen. Dabei reduziert Swinton ihr Spiel auf ein Minimum, wirkt beinahe schon geisterhaft und in Trance, während sie die innere Unruhe und stille Verzweiflung ihrer Figur mit beeindruckender Subtilität verkörpert.
Mehr spannende Hintergründe in Form von Interviews mit Tilda Swinton, Apichatpong Weerasethakul, Cutter Lee Chatametikool und Sound Designer Akritchalerm Kalayanamitr bekommt ihr übrigens im Bonusmaterial der Limited Collector's Edition von „Memoria”, die ihr euch bei Amazon holen könnt:
Spirituelle Reise für Sinnsuchende
„Memoria” kann verstanden werden als Sinnsuche, als klassische Heldenreise der Protagonistin auf der Suche nach sich selbst. Doch entzieht sich der Film zugleich der Interpretation. Keine aufgeworfene Frage wird so richtig beantwortet, Jessicas Begegnungen eröffnen vielmehr ein kulturelles Mosaik, das zur Auseinandersetzung mit Zeit, Erinnerung und Existenz einlädt.
Dabei kann der Film mit seinen langen Einstellungen und wundervollen Aufnahmen der kolumbianischen Natur für die Zusehenden selbst zu einer hypnotischen Erfahrung, einer Art Mediation werden, wenn man den gewillt ist, diesen Schritt zu gehen. Für „Avengers”- und „MCU"-Fans oder Liebhaber von schnellen Schnitten und vielen Dialogen ist das sehr wahrscheinlich nichts – die Monotonie und Starre muss man schon aushalten können.
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