Eine Geräuschemacherin soll einen Werbespot vertonen. Dabei vertieft sie sich dermaßen in ihre Aufgabe, dass sie allmählich zum Pferd mutiert und ihren zuvor vergrabenen sexuellen Bedürfnissen nachgeht. Also beginnt sie eine leidenschaftliche SM-Affäre!
Dieser Stoff aus deutschen Stallungen lockte zwar ein verschwindend kleines Publikum in die örtlichen Lichtspielhäuser, generierte aber internationales Lob. Jetzt bekommt der Mix aus Sadomaso-Geschichte, pferdestarker Abwandlung bekannter Werwolf-Motive und inniger Kino-Liebeserklärung die Chance, sein Publikum auszubauen: Seit dieser Woche ist „Piaffe“ auf DVD und Blu-ray erhältlich!
Zudem ist der Film über eine schüchterne Frau erzählt, die sich dank BDSM-Praktiken neu erfindet, als VOD via Prime Video* verfügbar.
"Piaffe": Klänge und Gelüste, die international nachhallen
Da ihre Schwester Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau) einen Nervenzusammenbruch erlitt, springt die introvertierte Eva (Simone Bucio) beruflich für sie ein: Als Geräuschemacherin soll sie einen Werbespot nachvertonen, in dem ein Pferd elegant auf der Stelle trabt. Eva verliert sich mit großer, ihr zuvor fremder Leidenschaft in diese Aufgabe – woraufhin ihr ein Pferdeschweif wächst. Allmählich wird sie immer tierischer und steht erstmals zu ihren sexuellen Begehren. Also beginnt sie eine Affäre mit einem belesenen Botaniker (Sebastian Rudolph), der keine Scheu davor hat, mit ihr verschiedenste SM-Praktiken zu vollziehen...
Im August 2023 startete FILMSTARTS die Aktion „Deutsches Kino ist [doch] geil!“, um gegen das ungerechtfertigte Vorurteil anzukämpfen, deutsche Filme seien uninteressant. Somit führten wir das Label ein paar Monate zu spät für „Piaffe“ ein, obwohl das Erotik-Romantikdrama und unser Leitspruch wie füreinander gemacht sind. Nicht nur aufgrund der naheliegenden Doppeldeutigkeit, sondern auch, weil „Piaffe“ international bestens ankam.
Das Langfilm-Regiedebüt der Berliner Künstlerin Ann Oren verbuchte 92 Prozent bei RottenTomatoes, außerdem genoss es eine ergiebige Filmfestival-Tour: Unter anderem wurde „Piaffe“ beim Genrefilm-Festival in Sitges als bester Film nominiert, gewann den Jurypreis beim Gérardmer Film Festival und wurde beim Locarno International Film Festival prämiert. Bleibt zu hoffen, dass im Heimkino nun auch mehr Filmfans anbeißen als noch während der hiesigen Kinoauswertung.
Erotik, Fantasie, Filmmagie und ein Tribut ans Anderssein
Schließlich ist der Film, dessen Titel auf eine Pferde-Dressurbewegung verweist, bei der das Pferd zugleich in Konzentration und Aufregung gehalten wird, ein Eintrag in ein rares, aber attraktives Genre: „Body Pleasure“. Dieses Genre versteht sich als Gegenentwurf zum altbekannten „Body Horror“:
Wie im Werwolfkino oder bei David Cronenberg und Co. durchläuft die Hauptfigur eine körperlich unmögliche Transformation, die als Metapher für reale physische (und teils psychische) Veränderung steht. Doch statt durch eine Werwolf-Mutation etwa die Angst vor der eigenen Pubertät zu schildern, verdreht Oren die Erwartungen:
Ihre Protagonistin ist glücklich mit ihrer Veränderung und zieht aus ihr Genuss – was es ihr wiederum ermöglicht, die sexuelle Erfüllung einzufordern, die ihr zuvor verwehrt blieb. Wer die „Fifty Shades Of Grey“-Grundidee mochte (Introvertierte übernimmt Job einer Anvertrauten, stolpert in eine SM-Faszination, entfaltet ihren Charakter), aber bei der Umsetzung vom Glauben gefallen ist, kommt also endlich zum Zug.
Gefährliche Sexstrahlen aus dem All: Diese lüsterne Sci-Fi-Parodie ist ein herrlicher Spaß und kommt besser denn je ins HeimkinoDarüber hinaus nutzt Oren ihren gemeinsam mit Thais Guisasola verfassten Film, um eine vielschichtige Hommage ans Kino zu kreieren: Oren wählte bewusst das Pferdemotiv, um an die (ebenso in Jordan Peeles „Nope“ aufgegriffenen) Pferdeaufnahmen Eadweard Muybridges zu erinnern, die zu den ersten Schritten des Filmmediums gehören.
Und wie Teresa Vena schon in der FILMSTARTS-Kritik erläuterte, greift Oren auf François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ zurück, rekreiert einen als Kaiserpanorama bekannten Kino-Vorläufer, und zelebriert das Materielle am Medium Film: „Piaffe“ wurde auf 16mm gedreht, und Oren entlockt dem Zelluloid eine haptische Sinnlichkeit mit einer satt-dominanten, verträumten Farbpalette. Gezielt ließ sie schwammige Überblendungen, Unschärfen und Lichtflecken im fertigen Werk, womit die „Piaffe“-Ästhetik eine raue-galante, anziehende Physik entwickelt.
Das fügt sich hervorragend mit den groben, ungeordneten, faszinierenden Mitteln, mit denen Eva ihrem Werbespot attraktiveren Klang verleiht. Und all das ist wohl kaum Zufall in einem Film über eine Frau, die erst mit Pferdezeug am Körper oder weiteren Hilfsmitteln Befriedigung verspürt.
Hinzu kommen thematische Elemente über das Hinterfragen von binären (Gender-)Konstrukten und eine tief im Film verwurzelte, lebhaft-selbstbewusste Herangehensweise an das unangepasste Dasein. Durch diese vielen thematischen Pferdestärken macht Oren gewiss Teile ihres Publikums erst recht scheu – aber sie machen „Piaffe“ auch zu einem konsequent-erhabenen Ausnahmefilm.
Diesen Geheimtipp haben im Kino keine 10.000 Menschen gesehen – jetzt könnt ihr ihn im Heimkino nachholen!*Bei den Links zum Angebot von Amazon handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diese Links oder beim Abschluss eines Abos erhalten wir eine Provision. Auf den Preis hat das keinerlei Auswirkung.