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    Piaffe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Piaffe

    Eine doppelte Hommage an das Kino selbst

    Von Teresa Vena

    In ihrem Langspielfilmdebüt beschäftigt sich die deutsche bildende Künstlerin und Filmemacherin Ann Oren mit Themen wie Sinnlichkeit, Körperlichkeit und dem Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern. „Piaffe“ ist eine feine Amour-fou-Geschichte, die sich auf formaler wie inhaltlicher Ebene spürbar auf gewisse Werke der Nouvelle Vague der 1960er Jahre bezieht. So erinnert vor allem eine Szene an eine ikonische Episode aus François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“, in der der Protagonist in einem Moment der Ausgelassenheit in ein Zentrifugen-Karussell, das damals eine ganz neue Attraktion war, steigt.

    Bei Oren ist es zwar kein Karussell, aber eine andere altertümliche Holzkonstruktion, ein sogenanntes Kaiserpanorama, in das die Protagonisten eintreten und darin ordentlich durchgeschüttelt werden. Das Kaiserpanorama, ein Laterna-Magica-Guckkasten für eine Mehrzahl an Personen, ist quasi eine Urform des Kinos selbst – und genau an diese Anfänge und das Handwerkliche des FilmeMACHENS möchte „Piaffe“ in vielerlei Hinsicht erinnern.

    Auch auf den Röntgenbildern sieht man es ganz deutlich: Eva (Simone Bucio) bildet sich den neugewachsenen Schweif keinesfalls einfach nur ein!

    Eva (Simone Bucio) muss für ihre Schwester (Simon(e) Jaikiriuma Paetau) einspringen. Da sich diese in einer psychiatrischen Klinik aufhält, kann sie nämlich ihren Auftrag nicht fertigstellen. Es handelt sich um die Vertonung eines Werbespots für Antidepressiva, in dem ein Pferd die Hauptrolle spielt. Evas erster Versuch schlägt fehl, sie muss nachbessern. Und der Auftraggeber rät ihr, sich echte Pferde anzuschauen. Das macht sie auch und entwickelt sogleich eine besondere Faszination für die Tiere. Sie kann sich sogar dermaßen in sie hineinversetzen, dass ihr bald selbst ein langer Schweif wächst.

    Nach kurzer Beunruhigung lernt sie, diesen zu akzeptieren. Zugleich merkt sie, dass er ein nützliches Mittel für die sexuelle Annäherung an den genauso eigenbrötlerischen Botaniker (Sebastian Rudolph) ist, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Zum ersten Mal kann sie ihren Trieben nachgehen, ohne im Schatten ihrer Schwester zu stehen. Vielleicht kann sie sich sogar ganz von ihr emanzipieren…

    Zurück zu den Wurzeln des Filmemachens

    In „Piaffe“ zelebriert Ann Oren das Kino in seiner ganzen Materialität. Das beginnt schon damit, dass das Bild eine gewisse Körnigkeit aufweist. Dazu kommen die satten Braun- und Rottöne, die die Farbpalette dominieren, sowie gelegentlichen Überblendungen und Unschärfen, die bei der Projektion einer traditionellen Filmspule entstehen können. Aus demselben Bemühen heraus, die technischen Eigenschaften von Film herauszustellen, greift auch Eva bei ihrer Vertonungsarbeit nicht etwa auf eine Sammlung von voraufgenommenen Geräuscheffekten oder gar digitalen Aufnahmen zurück. Sie muss diese selbst herstellen. Dafür hat sie eine Vielzahl an Holzkisten vor sich, in denen Sand, Kies und andere Materialien ausgelegt sind und in denen sie mit Gegenständen wie Kokosnussschalen oder Schuhen herumwühlt. Mit einer Kette im Mund versucht sie, das Geräusch nachzustellen, dass ein Pferdegebiss auf einer Trense erzeugt.

    Die Liebe zum Medium Film an sich steht im Vordergrund von „Piaffe“, was sich auch in der Geduld und Genauigkeit zeigt, mit der Oren die verschiedenen Prozesse beschreibt. Es ist die melancholische Stimmung einerseits, der entrückt-surreale Charakter andererseits, die dem Film etwas Zeitloses verleihen. Dieser Eindruck wird seinerseits durch die äußerst stilisierte Ästhetik, die sich durch die gesamte Ausstattung, Kleidung und Maske zieht, unterstützt. Zudem ist der Einsatz aktueller Technik auf ein Minimum reduziert. Nur konsequent ist es daher, dass keine Spezialeffekte genutzt werden. Das wird einem bei einer Szene ganz besonders bewusst, in der Eva ihren Botaniker besucht und er ihr im gemeinsamen Liebesspiel eine Rose mit dem Stiel voran in den Hals steckt. Es ist bei genauem Hinsehen zu bemerken, wie die Rose neben Evas Gesicht nach unten sinkt. Im ersten Moment hat dies etwas unfreiwillig Komisches, zugleich wirkt es in seiner Unbeholfenheit aber auch anrührend.

    Eva hockt zwischen all den Dingen, die sie braucht, um die Geräusche für den Antidepressive-Werbespot herzustellen.

    Auffällig ist die Genauigkeit, mit der die Regisseurin die Auseinandersetzung der Protagonistin mit den Pferden beschreibt. Eva prägt sich die Bewegungen der Tiere exakt ein. Als „Piaffe“ bezeichnet man übrigens im Dressurreiten das Auf-der-Stelle-Gehen des Pferdes. Eva macht das oft nach, beispielsweise wenn sie in der Disko tanzen geht. Sie geht auch auf der Stelle, sie ist gefangen von inneren Zwängen, wartet aber nur auf den entscheidenden Augenblick, der es ihr erlaubt, sich aufzubäumen und sich von den Zügeln loszureißen. „Piaffe“ will ein Film über die persönliche und sexuelle Emanzipation der Hauptfigur sein. Ersteres gelingt dabei glaubhafter als zweiteres.

    Diese Seelenverwandtschaft zwischen Eva und dem Pferd nimmt viel Platz in der Geschichte ein und das geht zu Lasten der Ausarbeitung ihrer Verbindung zu dem Botaniker. So hat man mitunter das Gefühl, dass der Film unfertig ist, denn in diesem Teil hätte sich die Argumentation rund um Sexualität und Sinnlichkeit noch weiterführen lassen. Stattdessen dient Evas neugewachsener Schweif als recht beschränktes Symbol, um das Thema Fetischismus anzusprechen, ohne etwas Neues daraus herauszuholen. Diese Grundidee ist übrigens selbst nicht neu. Das Gedankenexperiment hat bereits Ivan I. Tverdovsky 2016 in „Zoologiya“ durchgeführt – und daraus eine noch überzeugendere Parabel über die menschliche Natur entwickelt.

    Fazit: „Piaffe“ leidet an einer gewissen Diskrepanz zwischen seiner ausgeklügelten Ästhetik und der eher brüchig erzählten Geschichte. Eindrücklich ist der Film vor allem als Hommage an das Kino selbst, das die Regisseurin Ann Oren sowohl in seiner technischen Greifbarkeit als auch als imaginierten Sehnsuchtsort feiert.

    Wir haben „Piaffe“ beim Filmfestival in Locarno gesehen, wo er als Teil des zentralen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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