2001 brachte der legendäre Regisseur David Lynch seinen bislang vorletzten Kinofilm heraus: „Mulholland Drive“, ein von Liebe, Eifersucht und Mord erzählender Mix aus Thriller, Drama und Mystery. Mit Lynchs typischem Verwischen von Traum und Realität sowie durch eine elliptische Erzählstruktur hat sich „Mulholland Drive“ ins Herz zahlreicher Filmbegeisterter gekämpft.
Unter anderem landete der moderne Klassiker in einer von der BBC durchgeführten Umfrage auf Platz eins der besten Filme dieses Jahrhunderts. Außerdem wurde „Mulholland Drive“ durch das prestigeträchtige Filmmagazin Sight & Sound unter die zehn besten Filme aller Zeiten gewählt.
Doch beinahe wäre all dies unmöglich gewesen. Stattdessen wäre Lynch mit diesem Projekt vielleicht in einigen TV-Bestenlisten gelandet – denn eigentlich sollte aus „Mulholland Drive“ eine Serie werden!
Auf den Spuren von "Twin Peaks": Das ursprüngliche "Mulholland Drive"
In „Mulholland Drive“ geht es um Betty (Naomi Watts), die von einer Karriere in Hollywood träumt. Eines Tages begegnet sie einer Frau (Laura Harring), die ihr Gedächtnis verloren hat und sich fortan Rita nennt. Alsbald werden beide Damen in einen Strudel aus Begegnungen mit schmierigen Produzenten und rätselhaften Ereignissen gezogen...
Lynch steht zwar für einzigartige filmische Erfahrungen, allerdings sorgte er mit seiner einflussreichen Mysteryserie „Twin Peaks“ auch für ein ikonisches Stück TV-Geschichte. Obwohl das Ur-„Twin Peaks“ Anfang der 1990er nur für zwei Staffeln beim US-Sender ABC lief (die Revival-Staffel folgte 2017 bei Showtime), zog es Lynch Ende der Dekade zum Kanal zurück.
Lynchs neuer Serienpitch drehte sich um die gefährliche Folgen aufweisende Freundschaft zwischen Betty und Rita, die durch einen grauenvollen Autounfall in Bettys Leben gerät. Der Sender gab allein auf Basis solch knapper Infos eine 90-minütige Pilotfolge in Auftrag. Nach deren Sichtung sollte darüber entschieden werden, ob auch eine ganze „Mulholland Drive“-Staffel genehmigt oder der Pilotfilm ins Senderarchiv verbannt wird.
Schon gewusst? Die epische Filmmusik aus "Fluch der Karibik" war eigentlich nur eine hastige Notlösung!Als Produktionsfirma agierte das Disney-Studio Touchstone Television, das später Serien wie „Alias – Die Agentin“ oder „Lost“ verantwortete. Nach den im Februar und März 1999 erfolgten Dreharbeiten kam es allerdings zu Differenzen zwischen Lynch und der ABC-Chefetage:
Lynch zeigte eine zweistündige Rohfassung, die eine laut Angaben des Regisseurs übermüdete Person absegnen musste. Der Pilotfilm fiel bei ihr durch, unter anderem, weil sie Anstoß daran nahm, dass in ihm geraucht wird. Zudem wurden Harring sowie Watts als „zu alt“ für ein neues Serien-Aushängeschild empfunden. In einem Punkt waren sich sogar ABC und Lynch einig: Die zweistündige Fassung war zu lang sowie zu langwierig – strittig waren sich Sender und Regisseur aber bei der Frage, woran das lag.
Das Projekt wäre somit verdammt gewesen, bloß eine Fußnote in Lynchs Schaffen darzustellen. Doch wie in „Weirdsville USA: The Obsessive Universe Of David Lynch“ genauer nachskizziert wird, hatte Lynch glücklicherweise gute Verbindungen zum französischen Medienunternehmen Canal+.
Dort willigte man ein, ABC das bereits gedrehte Material abzukaufen und Lynch eine etwa sieben Millionen Dollar teure Finanzspritze zu geben, um im Oktober des Jahres 2000 für rund zwei Wochen neue Szenen zu drehen. Damit sollte er den Pilotfilm erweitern und als in sich geschlossenen Kinofilm neu erfinden.
Ein Kinofilm, der eine ungewollte TV-Serie zu Ende improvisiert
Lynch hatte im Serienpiloten die Weichen für ausführliche Handlungsfäden gelegt, die im Laufe der Serie genauer beleuchtet werden sollten. Zudem gab es grobe Ideen für neue Rätsel, die später in der Serie aufgeworfen werden sollten.
Diese Pläne gab Lynch jedoch weitestgehend auf. Stattdessen dachte er sich neue Eskalationen, Verwicklungen und Auflösungen aus. Zudem beschloss er, in der „Mulholland Drive“-Filmversion eine Romanze zwischen Rita und Betty zu zeigen. Die war ursprünglich nicht vorgesehen, ebenso wenig wie eine derart drastische Abkehr in Traumlogik, wie sie im fertigen Film letztlich erfolgt.
Dem Film ist, wenn man erst einmal von seinen Produktionsumständen weiß, durchaus anzumerken, wie er entstanden ist: Strukturell lässt er sich eindeutig in zwei Sinnhälften unterteilen, die jeweils zwei respektive ein Drittel der Laufzeit ausmachen. Und die Tonalität des (im Schnitt gestrafften) Materials, das einst für ABC entstand, hebt sich vom neuen Material klar ab.
Dieser Wechsel hätte „Mulholland Drive“ leicht das Genick brechen können. Doch die hervorragende Rezeption des Films spricht Bände: Lynch nahm eine denkbar schlechte Ausgangslage und schuf mit seinen Einfällen (und einer Geldspritze aus Frankreich) einen hoch gelobten Kino-Meilenstein.
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