Die Story von „Dogville“ ist schnell umrissen: Grace, atemberaubend gespielt von Nicole Kidman, flüchtet vor einer Gangsterbande und landet dabei im Dorf Dogville, einer provinziellen Gemeinde zur Zeit der Großen Depression in den USA.
Angesichts der Gefahr, die Grace‘ Anwesenheit für den Dorffrieden und die Sicherheit der Bewohner darstellt, weigern sich die Einwohner zunächst, sie in ihrer Not zu beherbergen. Tom Edison (Paul Bettany), der sie vor den Gangstern versteckte und sich selbst zum Moralprediger des Dorfes ernannt hat, bringt das Dorf dazu abzustimmen und man einigt sich darauf Grace zwei Wochen Zeit zu geben, in der sie den Leuten im Dorf bei Anfrage für Hungerlöhne helfen soll, um sich so als nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu erweisen.
"Dogville" noch schnell bei arte streamen
Lars von Triers „Dogville“ steht aktuell in voller Länge in der arte-Mediathek zur Verfügung. Das ist komplett kostenlos, ihr müsst euch nicht einmal anmelden. Nur schnell müsst ihr sein. Nur noch bis einschließlich 31. Dezember 2023 kann von Triers so kontroverse wie radikaler Jahrhundertfilm geschaut werden. Brandaktuell ist er mit seiner Flüchtlingsthematik auch: Wie gehen wir nämlich mit Menschen um, die in ihrer Not zu uns kommen?
Erfahrungsgemäß stehen sie ab Sekunde eins fortwährend unter Beobachtung, ob sie auch nach unseren Regeln spielen, ungeachtet der Machthierarchie in dieser Konstellation. Da müssen nur ein paar Leute aus prekären Verhältnissen mit Silvester-Böller aus Frust um sich schießen und schon ist der Weg wieder frei für rassistische Ressentiments im öffentlichen Diskurs. Wie bei Grace gilt auch in der Realität: Die Menschen müssen sich immer wieder aufs Neue unsere Gunst verdienen und sind im Zweifelsfall, bei all ihrem Integrationsbemühen, trotzdem doch nur Gäste, die wir jederzeit bereit sind zu verstoßen oder zum Prügelknaben zu degradieren.
Die Rigidität eines solchen gesellschaftlichen Klimas bringt Lars von Trier auf eine Weise auf den Punkt, dass ich so weit gehen würde zu behaupten, „Dogville“ ist der brutalste Film, den ich jemals gesehen habe und dass, obwohl der Film über seine 180 Minuten fast völlig auf Gewalt verzichtet.
Denn es ist nicht die Ausstellung eines ohnehin schon unerträglichen gesellschaftlichen Miteinanders wie in Michael Hanekes „Das weiße Band“, sondern es ist der schleichende Prozess, den Trier hier minutiös in seiner gewohnten Kapitelaufteilung nachzeichnet, der einem unter die Haut kriecht: der Weg von der relativ unbedarften Dorfgemeinschaft in die totale Barbarei.
Maximalistischer Minimalismus
Lars von Triers einzigartiger Coup besteht nun aber darin, dass er neben der inhaltlichen Dichte und Themenvielfalt die Form des Kinos selbst befragt und an seine Grenzen bringt. Denn alles, was wir sehen, spielt sich in kaum ausgestatteten Theaterkulissen ab, die auf den ersten Blick natürlich abschrecken, weil sich die Frage stellt: Weshalb macht man nicht gleich ein Theaterstück daraus?
Ganz einfach: Lars von Trier will, entgegen seinem Ruf als nihilistischer Menschenhasser, dass wir Grace‘ Leidensweg nachempfinden. Auf einer Bühne wären wir permanent der Dorfgemeinschaft als Ganzes ausgeliefert und würden Grace aus den Augen verlieren.
YouTube-Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt brachte es treffend auf den Punkt, als er in seiner Analyse zu Sidney Lumets Klassiker „Die 12 Geschworenen“ anmerkte, dass der Film im Gegensatz zum Theater einen entscheidenden Vorteil hat: die Nahaufnahme.
Trier nutzt diese hier auch nicht zu knapp und es gelingt ihm so, uns zu beweisen, dass die totale Immersion nichts mit großartigen Sets oder viel Budget zu tun haben muss: Es reicht auch eine Packung Kreide und ein glänzendes Schauspieler-Ensemble, um die suspension of disbelief zu überwinden und die ästhetischen Regeln dieser Welt zu anzunehmen.
Radikaler Feminismus
Das alles dient aber nicht nur einer großen Gesellschaftsparabel, sondern ist darüber hinaus, wie eigentlich fast das ganze Werk von Triers, ein radikal feministischer Film. Die Abwesenheit von Materialität in dieser Kulissen-Welt lässt uns nämlich gleichzeitig die Willkürlichkeit – wie Moritz Baßler es in seinem Text zu Susan Sontags Camp-Theorie feststellte – der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse erkennen und somit auch permanent hinterfragen, sodass wir zwangsläufig nach diesem Film auch die Rolle der Frau gänzlich anders bewerten.
Jedoch bedeutet Feminismus bei Lars von Trier nicht das, was er heute medial größtenteils zu sein hat: Reines Empowerment und alles, was nicht empowertet ist auch nicht feministisch. Stattdessen gilt bei ihm: schonungslose Konfrontation mit patriarchalen (Gewalt-)strukturen und wie sich alle (auch Frauen) daran beteiligen.
In Dogville gibt es keine wohltuenden Antworten, sondern nur quälende Fragen, denen wir uns alle stellen müssen – denn ob wir wollen oder nicht: Was wir hier in seiner schonungslosen Radikalität sehen, ist nichts im Vergleich zu der Realität, auf die sich von Trier bezieht.
Um dieser gewappneter gegenübertreten zu können, sei euch allen empfohlen, das Streaming-Angebot in der arte-Mediathek, das nur noch bis Ende des Jahres gilt, wahrzunehmen und sich Lars von Triers Meisterwerk auszusetzen.
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