Nur bei sehr wenigen Schauspielern einer Generation sind sich Kinobesucher und Filmemacher über die Ausstrahlung und das darstellerische Können so einig wie es aktuell bei Leonardo DiCaprio und Johnny Depp der Fall ist. Ihnen liegen Meisterregisseure wie Martin Scorsese oder Tim Burton ebenso zu Füßen wie Millionen von zahlungswilligen Kinofans. Der 1993 entstandene „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa" gilt dabei für beide Stars als wichtiger und prägender Meilenstein auf dem Weg zum heutigen Status. Der Schwede Lasse Hallström zeichnet auf ruhige, manchmal etwas langatmige Weise ein realistisches Gesellschaftsbild des amerikanischen Hinterlandes und regt seine jungen Darsteller, allen voran DiCaprio, zu großen Leistungen an.
Endora ist eine ganz typische US-amerikanische Kleinstadt mitten im Nirgendwo von Iowa. Hier gibt es keine Aufregung, keine Abwechslung, selbst die Jugend weiß nicht, was sie mit ihrer Zeit anstellen soll. Gilbert Grape (Johnny Depp) ist einer der jungen Gefangenen dieser Einöde. Seine übergewichtige Mutter Bonnie (Darlene Cates) vegetiert seit dem Tod ihres Mannes auf dem Fernsehsofa vor sich hin, seit Jahren hat sie das abgelegene Haus der Familie nicht verlassen. Es bleibt Gilbert überlassen, sich um seinen geistig behinderten Bruder Arnie (Leonardo DiCaprio) zu kümmern, der ihn mit allwöchentlichen Versuchen auf den Wasserturm zu klettern auf Trab hält und für ein wenig Aufregung in der sonst so schläfrigen Ortschaft sorgt. Erst als die interessante, abenteuerlustige Streunerin Becky (Juliette Lewis) in der Gegend auftaucht, kommt ein wenig Farbe in Gilberts graues Leben...
Regisseur Hallström („Gottes Werk und Teufels Beitrag", „Das Leuchten der Stille") konzentriert sich nicht nur auf die aufregenden Momente seiner Geschichte. Er nimmt sich vielmehr Zeit, das ruhige und gleichförmige Leben in der Kleinstadt in seiner Langsamkeit und auch in seiner Langatmigkeit einzufangen. Dass der Film dennoch kaum langweilig zu werden droht, hat der Regisseur nicht zuletzt seinen Darstellern zu verdanken, die mit bewegenden Leistungen für Gefühl und Abwechslung sorgen. Gemeinsan gelingt den Beteiligten dabei ein unaufdringliches Plädoyer für die Gleichstellung und Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen, die in der sozialen Wirklichkeit allzuoft als Sonderlinge abgetan und ausgegrenzt werden. Es wird nicht nur Mitgefühl für den armen Arnie geweckt, dem die Ärzte ein sehr kurzes Leben vorausgesagt haben, sondern auch die stark fettleibige Mutter, die alle Aufgaben auf ihre älteren Kinder abgewälzt hat, wird mit Einfühlungsvermögen und Sympathie dargestellt.
Arnie, der – soviel Realismus muss sein – die Familie und auch die Zuschauer manches Mal mit seinen andauernden unbewussten Wiederholungen nervt, wird von dem jungen Leonardo DiCaprio („Inception", „Blood Diamond") schlicht überwältigend verkörpert. Für ihn ist alles neu, aufregend und unschuldig. Auch wenn die sich zwischen Gilbert und Becky anbahnende Liebschaft immer mehr in den Mittelpunkt rückt, sind die aufwühlenden und fesselnden Auftritte des fast Achtzehnjährigen eindeutig die Höhepunkte des Films. DiCaprio, der hier nach „This Boy's Life" zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres sein großes Talent zeigen kann, spielt die beiden etwas erfahreneren Depp („Edward mit den Scherenhänden", „Fluch der Karibik") und Lewis („Kap der Angst", „Strange Days") beinahe an die Wand und erhielt eine verdiente Oscar-Nominierung als Bester Nebendarsteller.
Johnny Depp agiert mit Bedacht ziemlich kühl und zurückhaltend. Sein Gilbert Grape wirkt distanziert, denn nur so hält er dem familiären Druck stand und kann seine Affäre mit der verheirateten Betty Carver (Mary Steenburgen, „Nixon", „Die Stiefbrüder") verbergen. Erst Juliette Lewis, die mit ihren Bands wie „Juliette and the Licks" heute weltweit auf Musikfestivals rockt, schafft es als lebhafte und neugierige Becky, die verletzliche, noch nicht gänzlich erwachsene Seite in Gilbert hervorzubringen. Für einige bewegende Momente sorgt dazu die unbekannte Darlene Cates als krankhaft übergewichtige Mutter.
Peter Hedges' („About a Boy", „Dan - Mitten im Leben") Drehbuch, das auf seinem gleichnamigen Roman „What's Eating Gilbert Grape" basiert, ist eine solide analytische Bestandsaufnahme der kleinstädtischen Welt und ihrer Charaktere. Hallström und Hedges machen die Rolle von Gilberts Mutter und ihre Position im sozialen Umwelt zu einem zentralen Thema und zeigen, dass auch in der dicken und äußerlich groben Frau eine zarte und verletzliche Person steckt. Der insgesamt optimistische Tonfall mit seiner Toleranzbotschaft und der sich zusammenraufenden Problemfamilie wird unterfüttert durch fein gezeichnete Nebenfiguren wie den Burgerbrater Tucker (John C. Reilly, „Magnolia", „Walk Hard") oder den auf neue Kundschaft wartenden jungen Bestatter Tucker (Crispin Glover, „Hot Tub - Der Whirlpool... Ist 'ne verdammte Zeitmaschine!", „Zurück in die Zukunft"), die stellvertretend für die Ambitionen der „kleinen Leute" stehen - das sich anbietende Klischee des typischen Hinterwäldlers wird von Hallström dabei glücklicherweise gemieden.
Lasse Hallström setzt passend zum eintönigen Provinzleben auf eine ruhige und verhaltene Inszenierung mit teils schönen, teils fast farblosen Landschaftsaufnahmen in langen Einstellungen. Manchmal scheint es beinahe, als würde der Regisseur sich von der Langatmigkeit des Gezeigten anstecken lassen, die äußerst dezente Piano-Untermalung tut ihr Übriges dazu. So plätschert die Geschichte immer mal wieder genau wie Gilberts Leben vor sich hin, bis Arnie schließlich wieder die volle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Fazit: „Gilbert Grape" ist die genau erzählte und bewegende Geschichte zweier heranwachsender Brüder, die trotz ganz unterschiedlicher Voraussetzungen unzertrennlich sind. Auch der sich in der sehr ruhigen Inszenierung gelegentlich andeutende Leerlauf fällt dank der tollen Darsteller kaum ins Gewicht. Vor allem der Leonardo DiCaprio liefert eine Meisterleistung und so ist „Gilbert Grape" nicht nur ein gelungenes Jugendporträt, sondern auch der Durchbruch eines großen Schauspielers.