Lieber spät als nie. Mit „This Charming Girl“, seinem stillen, äußerst genau beobachteten Drama einer jungen, zutiefst traumatisierten Postangestellten, hat der koreanische Filmemacher Lee Yoon-ki 2004 eines der eindrucksvollsten Kinodebüts dieses Jahrzehnts gedreht. Trotzdem hat der Film, der 2005 auch auf der Berlinale lief und damals zweifellos zu den großen Entdeckungen des Festivals zählte, international kaum für Aufsehen gesorgt. Anders als Arbeiten von Park Chan-wook (Joint Security Area, Sympathy For Mr. Vengeance, Old Boy, Lady Vengeance) und Kim Ki-duk („Seom – Die Insel“, Frühling, Sommer, Herbst Winter... und Frühling), die zu dieser Zeit überall auf der Welt gefeiert wurden, lässt sich Lees Erstling eben nicht mit einigen griffigen Schlagwörtern vermarkten. Er stand aber nicht nur quer zu den blutigen Genre-Variationen und transgressiven Rache-Epen dieser beiden Regisseure. Dieses kleine, auf den ersten Blick fast schon unscheinbare Meisterwerk passte auch nicht zu den in jenen Jahren populären Independent-Filmen, die sich immer noch am Dogma-Stil abarbeiteten. Lees Vorbild ist eher ein Filmemacher wie Michelangelo Antonioni, der schon vor einem halben Jahrhundert die Entfremdung der Großstadtbewohner in geradezu eisigen Bildern beklagte. Und wie der große italienische Meister der Kinomoderne ist auch Lee ein grandioser Frauen-Regisseur.
Jeong-hae (Kim Ji-su) arbeitet an einem Schalter in einer Postfiliale irgendwo in Seoul. Sie ist immer freundlich und professionell, aber offensichtlich um Distanz bemüht. Mit Kolleginnen geht sie in der Mittagspause zwar essen und gelegentlich auch mal nach Schalterschluss etwas trinken, trotzdem scheint sie eine unsichtbare Mauer zu umgeben. Jenseits von oberflächlichen Kontakten und Gesprächen ist sie zu sozialer Interaktion kaum fähig. Etwas in ihrer Vergangenheit, von der sie regelmäßig in Visionen und Tagträumen heimgesucht wird, hat sie innerlich zerbrechen lassen. Nur zu einer kleinen, streunenden Katze, die sie mit in ihre Wohnung genommen hat, kann Jeong-hae ein liebevolles Verhältnis aufbauen. Aber selbst diese Beziehung erhält nach und nach einen dunklen Unterton. Einmal wagt sie sich sogar an ein Date mit einem schüchternen Schriftsteller (Hwang Jeong-min), den sie bei ihrer Arbeit kennen gelernt hat. Aber auch dieser Schritt führt sie nicht aus ihrer Isolation heraus.
Entfremdung und innere Zerrissenheit, das sind die beiden großen Leitmotive des südkoreanischen Kinos der vergangenen 15 Jahre. Die Spaltung in Nord- und Südkorea und die in den Köpfen der Menschen immer noch sehr lebendige Militärdiktatur der 80er Jahre haben tiefe Spuren in der kollektiven Psyche dieses Landes hinterlassen. Sie werden in den Filmen von Park Chan-wook und Lee Chang-dong (Secret Sunshine) genauso sichtbar wie in denen von Hong Sang-soo (Night And Day) und Bong Joon-ho (Memories Of Murder, The Host). Allerdings hat noch keiner von ihnen die Zusammenhänge zwischen dem vom wirtschaftlichen Boom geprägten Stadtbild Seouls und der vernarbten Seele seiner Bevölkerung so nachdrücklich und klar in Szene gesetzt wie Lee Yoon-ki.
Jeong-hae ist im wahrsten Sinne ein Geschöpf ihrer Heimatstadt. Die äußerlich erhabenen, aber letztlich gänzlich profillosen Fassaden der Bürohochhäuser und Appartementkomplexe spiegeln perfekt dieses „charmante Mädchen“ wider. Anmut und Schönheit sind in diesem Film nur andere Worte für Unnahbarkeit. Je länger Lee seine Protagonistin beobachtet, desto deutlicher werden die Risse in ihrer perfekten Fassade. Selten war es so aufregend, einem Menschen einfach nur zuzusehen und so seinen Alltag mitzuerleben. Die grandiose Kim Ji-su, die zuvor nur in einigen südkoreanischen Fernsehserien zu sehen war, versteht es, selbst ganz gewöhnlichen Tätigkeiten eine einzigartige Aura zu verleihen. Jede noch so kleine Bewegung zeugt von der inneren Verfassung ihrer Figur. So sehr Jeong-hae es sich auch wünscht, sie kann einfach nicht aus ihrer Haut heraus. Sie bleibt eine Gefangene ihrer Vergangenheit. Trotzdem versinkt dieses überwältigende Frauenporträt nie in dem oberflächlichen Nihilismus, der so viele andere Independent- und Arthouse-Filme prägt. Selbst in den Augenblicken tiefster Isolation und Verzweiflung steckt in Lees unaufdringlichen Einstellungen noch ein Funken Hoffnung.