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    Der zerrissene Vorhang
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der zerrissene Vorhang
    Von Jan Görner

    Trotz Alfred Hitchcocks unbestrittener Verdienste um das Kino, versuchten einige Zeitgenossen nach dem 1964 erschienenen Thriller „Marnie" das Ende des Meisters herbeizuschreiben. Das Wort vom „Neuen Hitchcock" führten einige fortan beständig im Munde. Auch als zwei Jahre später der Spionage-Thriller „Der zerrissene Vorhang" in die Kinos kam, wurde diesem vorgeworfen, ein weniger gut gelungenes Stück Hitchcock'schen Schaffens zu sein. Und tatsächlich handelt es sich bei näherer Betrachtung um ein eher mit heißer Nadel gestricktes Stück Suspense-Kino.

    Als sich der amerikanische Wissenschaftler Michael Armstrong (Paul Newman) - mehr oder weniger freiwillig begleitet von seiner Verlobten Sarah (Julie Andrews) - in Ost-Berlin absetzt, ist die DDR-Regierung hoch erfreut. Doch weder Sarah noch der ostdeutsche Staatsapparat wissen, dass sich der vermeintliche Überläufer in Wirklichkeit auf der Jagd nach einer geheimnisvollen Formel befindet. Dabei ist dem Hobby-Geheimagenten jedes Mittel recht. Schnell stellt er jedoch heraus, was für ein schmutziges Geschäft die Spionage eigentlich ist...

    Inspiriert von der wahren Geschichte um zwei britische Überläufer, gab Hitchcock ein Drehbuch in Auftrag, das sich mit den Menschen hinter den Verrätern befasst. Das klassisch in drei Akte unterteilte Drehbuch zeigt die Geschehnisse zuerst aus der Sicht Sarahs, die sich über die wahren Motive ihres Geliebten nicht im Klaren ist, um dann zu Armstrong zu wechseln und beide Perspektiven schließlich im Schlussteil zusammenzubringen. Das Publikum wechselt zwischen subjektiver und objektiver Darstellung hin und her und wird zum voyeuristischen Komplizen. All dies vom Meister orchestriert, um dem obersten Gebot Hitchcock'scher Filmkunst zu genügen, nämlich den Zuschauer im Geschehen gefangen zu halten.

    Aber „Der zerrissene Vorhang" markiert zugleich auch eine Zeitenwende für den Kinokünstler Hitchcock, da er das Ende der Zusammenarbeit mit einigen Schlüsselfiguren seines Schaffens darstellt. Cutter George Tomasini starb kurz nachdem „Marnie" in die Kinos kam. Auch für Kameramann Robert Burks bedeutete der 1964 erschienene Thriller die letzte Zusammenarbeit mit Hitchcock. Der Oscar-Gewinner (1956 für „Über den Dächern von Nizza") verschied 1968 mit nur 58 Jahren. Zum musikalischen Leiter in „Der zerrissene Vorhang" wurde der ebenfalls oscarprämierte John Addison (1963 für „Tom Jones - Zwischen Bett und Galgen"). Addison, der sich zuvor eher durch die Arbeit an Komödien einen Namen gemacht hatte, liefert eine solide Arbeit ab, sollte aber in der Zusammenarbeit mit Hitchcock keine künstlerische Befriedigung finden. Erwähnenswert ist dahingehend vielleicht der traditionelle Cameo des Masters of Suspense in einer Hotellobby, von Addison mit einigen Noten aus der Titelmusik zu „Alfred Hitchcock Presents" spielerisch akzentuiert. Bernard Herrmann, der zunächst als Composer für „Der zerrissene Vorhang" tätig war, wurde während der Arbeiten am Film aufgrund künstlerischer Differenzen entlassen. Herrmann war seinerzeit maßgeblich an der Entwicklung des typischen Stils Alfred Hitchcocks beteiligt. Seinem Insistieren verdanken wir die unvergessliche Musikuntermalung der Duschszene in „Psycho". Grund für das Zerwürfnis war ein vom Studio Universal geforderter poppiger Eröffnungssong. Herrmann lieferte stattdessen einen kalten Thriller-Sound, der sich so radikal vom Geforderten unterschied, dass aus Hitchcocks Sicht keine Diskussionsgrundlage existierte.

    Ebenfalls Studiowünschen verdankt „Der zerrissene Vorhang" seine namhaften Stars. Der Part der Sarah ging an Julie Andrews („Mary Poppins"), die vornehmlich als Musical-Aktrice bekannt war. Wäre es nach Hitchcock gegangen, hätte die Tradition der Hitchcock-Blondinen noch einen weiteren Film überdauert und seiner Entdeckung Tippi Hedren („Die Vögel") wäre die weibliche Hauptrolle zugefallen. Doch der Altmeister konnte sich nicht durchsetzen. Paul Newman („Die Katze auf dem heißen Blechdach") war 1966 bereits ein etablierter Darsteller. Später sollte er mit gemischten Gefühlen auf die Kollaboration mit Hitchcock zurückblicken. Newman schrieb dem Regisseur vor Drehbeginn einen mehrseitigen Brief, in dem er ihm zahlreiche Bedenken bezüglich der Geschichte darlegte. Dennoch bewegen sich die Leistungen beider Hauptdarsteller auf ansprechendem Niveau. Unter den zahlreichen deutschen Darstellern sticht vor allem Wolfgang Kieling („Die Rache des Dr. Fu Man Chu") als Stasi-Agent Gromek hervor. Kieling nutzte die seltene Chance, eine menschlich wirkende Figur jenseits damals gängiger Stereotypen von kommunistischen Arbeitsautomaten zu entwerfen.

    Trotz zahlreicher Überarbeitungen genügte das Drehbuch des preisgekrönten Krimi-Autoren Brian Moore nie so recht den Vorstellungen Hitchcocks. Da Julie Andrews aufgrund von Terminschwierigkeiten nur in einem kleinen Zeitfenster zur Verfügung stand, musste die Produktion trotzdem anlaufen, ehe alle restlichen Zweifel ausgeräumt waren. Und in der Tat gibt sich das Skript oft naiv und oberflächlich gegenüber den Lebensverhältnissen im damaligen Ost-Block. Obgleich sich Hitchcock auf eine Recherche-Reise von Kopenhagen über Ost-Berlin und Leipzig bis nach Schweden (die Route der Protagonisten) begab, entschied er sich doch dagegen, vor Ort zu drehen. So weisen viele Szenen einen spezifischen Studio-Look auf, der sich am Vorabend der New-Hollywood-Ära schwindender Beliebtheit erfreute. Auch die gezielte Verwendung von Matte Paintings trägt zu diesem artifiziellen Look bei, der ihn heute zeitlich leicht verorten lässt.

    Mit einigen großartigen Ideen kann „Der zerrissene Vorhang" verlorenen Boden wieder gutmachen. Die Opening Credits wecken mit scheinbar beziehungslosen Bildern aus der kommenden Handlung und dem Flammenschweif einer startenden Rakete das Interesse des Publikums. Die Eröffnungsszene macht den Zuschauer gleich mit dem Boden, auf dem er sich fortan bewegt, vertraut. Auf einem Schiff im Nordmeer, auf dem sich Wissenschaftler aus aller Welt zu einer Konferenz getroffen haben, ist die Heizung ausgefallen. Den Kalten Krieg auf diese Weise zu versinnbildlichen, würde vermutlich nicht vielen einfallen. Die beiden Protagonisten trifft das Publikum kurz nach einem gemeinsamen Schäferstündchen zum ersten Mal. In diesen ersten Minuten wird kein Wort gesprochen und doch weiß der Zuschauer alles, was er wissen muss. Die subtile Sexualität dieser Augenblicke lässt den Titel des Films zudem in einem ganz anderen Licht erscheinen. Auch in der aufkeimenden Beziehung zwischen Sarah und Michael spiegelt sich Hitchcocks eigene Einstellung zur Ehe wider. Bemerkenswert ist die finale Szene im Ballett, sie gleicht in vielerlei Hinsicht dem legendären Klimax aus „Der Mann, der zuviel wusste" (1956), allein die Becken werden durch Schreien ersetzt. Alfred Hitchcock war sich seiner Stellung als Stil-Ikone also durchaus bewusst.

    In den Kanon der legendären Hitchcock-Sequenzen dürfte auch „Der zerrissene Vorhang" eine Szene delegieren. In einer minutenlangen tödlichen Konfrontation im Bauernhaus zwischen Armstrong und seinem Bewacher Gromek wollte Hitchcock aufzeigen, wie schwierig es ist, einen Menschen zu töten. In einer Zeit, in der Agentenfilme wie die „James Bond 007"-Reihe den Akt des Tötens als simples und anonymes Geschäft darstellten, war es eine mutige Entscheidung, die Genre-Konventionen so gegen den Strich zu bürsten.

    Fazit: Alfred Hitchcock, der Master of Suspense, fühlte keine Bringschuld, sich selbst mit jedem neuen Film überbieten zu müssen. Sein Hauptanliegen war es, den Zuschauer für die Länge eines Abends glänzend zu unterhalten. Dass er, mit seinem unvergleichlichen Talent gesegnet, auch aus eher mittelmäßigen Elaboraten mitreißende Filme fabrizieren kann, beweist „Der zerrissene Vorhang". Oft als Alterswerk missverstanden, ist der Thriller vielmehr berechtigter Teil des Vermächtnisses eines einmaligen Kinogenies.

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