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    Mein Freund Harvey
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Mein Freund Harvey
    Von Andreas Staben

    Im Sommer 2009 wurde aus Hollywood vermeldet, dass Starregisseur Steven Spielberg daran interessiert sei, die Inszenierung der Neuverfilmung des Komödienklassikers „Mein Freund Harvey" zu übernehmen. Angesichts der unzähligen erfolg- und ideenlosen Remakes, die Jahr für Jahr die Leinwände und Bildschirme überschwemmen, meldeten sich die Skeptiker auch im Fall der geplanten Neuauflage von Henry Kosters 1950 gedrehtem Evergreen bald zu Wort. Vor allem James Stewarts Bravourleistung in der Hauptrolle und sein perfektes Zusammenspiel mit dem imaginären Kaninchenfreund gilt als kaum erreichbares Vorbild. Für Spielberg kam daher zunächst auch nur sein Kumpel Tom Hanks, der gemeinhin als der legitime Erbe Stewarts im Fach des anständigen und großherzigen Jedermann angesehen wird, für den Part im Remake in Frage. Als der „Forrest Gump"-Darsteller aber abwinkte, erkaltete bald auch das Interesse des Regisseurs. Nun wandert das Drehbuch von Hand zu Hand, letzte Gerüchte drehten sich vor allem um eine mögliche Mitwirkung von Robert Downey Jr.. So oder so dürfte es schwer werden, sich aus dem langen Schatten von „Harvey" zu lösen, denn Stewarts Charakter und sein eingebildeter Freund haben nicht nur im kollektiven Bewusstsein der Amerikaner einen festen Platz gefunden, sondern auch in den Herzen der Zuschauer weltweit.

    Elwood P. Dowd (James Stewart) ist ein stets freundlicher und gutmütiger Herr, der seine Zeit am liebsten im angeregten Gespräch in Bars und Kneipen verbringt. Er hat seinen besten Freund stets an seiner Seite: Harvey ist ein zwei Meter großes weißes Riesenkaninchen, das dummerweise nur Elwood selbst sieht. Dessen Schwester Veta (Josephine Hull) verzweifelt fast an diesem Spleen und fürchtet um die Heiratschancen ihrer Tochter Myrtle Mae (Victoria Horne), denn Elwood vertreibt mit seinem exzentrischen Verhalten alle respektablen Gäste aus dem gemeinsamen Haushalt. Schließlich wissen die lieben Verwandten nur noch einen Ausweg und wollen den im Grunde absolut harmlosen Kaninchenfreund in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Bei der Anmeldeprozedur in der Klinik entfaltet sich jedoch ein mittleres Chaos, zunächst wird Veta dabehalten und Elwood hinauskomplimentiert. Bis zur denkwürdigen Auflösung folgen weitere Turbulenzen, Romanzen werden angebahnt und Harvey findet neue Freunde...

    James Stewart betrachtete Elwood P. Dowd stets als eine seiner Lieblingsrollen. Er hatte den Part bereits monatelang in London auf der Bühne gespielt und war dann auch die erste Wahl bei der Verfilmung des 1944 uraufgeführten Stücks von Mary Chase, das im Jahr darauf mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden war. Was Stewart allen anderen Interpreten wie Heinz Rühmann und Harald Juhnke, die durchaus denkwürdige Leistungen zeigten, voraus hat, ist eine Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit, die jede Schauspielerei hinter sich zu lassen scheint. Sein Verhalten, das unzweifelhaft als schwer neurotisch gelten müsste, wirkt in seiner Darstellung zwar skurril, aber immer vor allem liebenswert. Wenn Elwood für Harvey Türen aufhält und Stühle rückt, wenn er mit dem Blick ins Leere das Wort an ihn richtet, akzeptieren wir das schnell als kleine Marotte, ähnlich wie der Barkeeper in der Stammkneipe, der sich auf Harveys Präsenz längst eingestellt hat.

    Mit dem Herzen am rechten Fleck avancierte James Stewart spätestens in Frank Capras Weihnachtsklassiker „Ist das Leben nicht schön?" zum Lieblingsschwiegersohn der amerikanischen Nation. Er wurde auch durch seinen Kriegseinsatz in ungewöhnlichem Maße mit seinen Rollen identifiziert und galt als tugendhaftes Vorbild. Elwoods ständige Lust auf einen Drink ist bei ihm nur eine Chiffre für Geselligkeit und die unerschütterliche Freundlichkeit, mit der er jedem begegnet. In „Mein Freund Harvey" verkörpert Elwood nicht zuletzt dank der Qualitäten von Stewarts Starpersona eine Idealvorstellung der Normalität, während all die Zweifler und Nörgler um ihn herum wie unausgeglichene Narren wirken.

    Um den ruhenden Pol Elwood herum herrscht in „Mein Freund Harvey" zumeist helle Aufregung: Josephine Hull, die als giftmischende Tante Abby in „Arsen und Spitzenhäubchen" schon einschlägige Erfahrungen mit komödiantisch überdrehtem Irrsinn sammeln konnte, ist als Veta nach einem Zwangsvollbad in der Anstalt der Hysterie nahe - für Momente zeigt sie aber auch große Klarsicht. Mit dieser Darstellung, für die Hull den Oscar als „Beste Nebendarstellerin" erhielt, geht sie weit eher als psychisch instabil durch als Stewart. Dazu kommt die köstliche Pointe, dass ausgerechnet dem Anstaltsleiter Dr. Chumley (Cecil Kellaway) durch Elwood die Augen für Harvey geöffnet werden und der Vertreter des Vernunftprinzips zum begeisterten Träumer und Phantasten mutiert. Ein weiteres Indiz für den ganz normalen Wahnsinn ist die unwahrscheinliche Paarung der etwas dünkelhaften Myrtle Mae mit dem rabiaten Krankenpfleger Wilson (Jesse White) - die Verhältnisse werden ohne Boshaftigkeit einfach auf den Kopf gestellt.

    Wenn Veta ihrer Tochter sagt, sie müsse noch viel lernen, das sie hoffentlich nie lernt, dann ist dies nur eines von vielen wunderlichen Bonmots, die eine der wesentlichen Stärken von Mary Chases Text ausmachen. Selten wurden grundlegende Paradoxien des Lebens so prägnant auf den Punkt gebracht, der gutgelaunte Hintersinn des Stückes gibt seinem sanften Optimismus ein Fundament. Für die impliziten Abgründigkeiten des Stoffes interessiert sich Henry Koster dabei allerdings wenig. Aus der Gegenwart des Unsichtbaren schlägt der Routinier, der hauptsächlich dafür bekannt ist, dass er 1953 mit „Das Gewand" den ersten Cinemascope-Film inszenierte, keine ästhetischen Funken, auch auf eine visuelle Beglaubigung der Präsenz des „Pooka" (so der Name der Fabelwesen, zu denen Harvey gehört) glaubt er am Ende nicht verzichten zu können. Den turbulenteren Szenen fehlt zudem oft der rechte Rhythmus und die Bühnenherkunft des Stoffes ist in der insgesamt recht biederen Inszenierung deutlich spürbar.

    Immerhin kreierte Koster mit der Hilfe des für seine Arbeit mit Greta Garbo berühmten Kameramanns William H. Daniels eine denkwürdige stimmungsvolle Szene in der Gasse hinter Charlies Bar. Absurder Witz und viel Herz kommen in einem sorgfältigen Arrangement von Licht und Schatten trefflich und gleichermaßen zur Geltung: Wenn Elwood von der ersten Begegnung mit Harvey erzählt, spricht aus ihm die Weisheit des Trinkers und eine gute Prise Melancholie. Für einen Moment sind spätere Rollen des Stars vorauszuahnen, ambivalentere Charaktere wie er sie in Western von Anthony Mann („Winchester 73", „Nackte Gewalt") und in Thrillern von Alfred Hitchcock („Das Fenster zum Hof", „Vertigo") verkörpern sollte.

    Elwood erwähnt einmal, dass er 35 Jahre mit der Realität gerungen habe, ehe er sie überwinden konnte. Das Bekenntnis zur Macht der Fantasie gegenüber der grauen Wirklichkeit (oder der Freundlichkeit gegenüber der faktischen Intelligenz wie es an anderer Stelle formuliert wird) ist das sympathische Credo dieses bescheidenen Klassikers, das vor allem durch die Ausstrahlung von James Stewart überzeugend vertreten wird. Gerade die etwas altmodisch Betulichkeit macht den Charme dieses Werkes aus – wer immer sich an der Neuauflage versucht, dem muss klar sein, dass diese Qualität nicht einfach reproduzierbar ist.

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