Ein Komponist kommt selten allein
Von Lars-Christian DanielsEgal ob Todd Fields „Tár“ mit Cate Blanchett, „Maestro“ von und mit Bradley Cooper oder zuletzt Hanna Slaks „Kein Wort“ mit Maren Eggert: Die Liste der Filme, die sich um das Wirken einer Dirigentin oder eines Dirigenten drehen, ist in den letzten Jahren sprunghaft länger geworden. Jetzt kommt noch ein weiterer Eintrag hinzu: Auch der französische Filmemacher Emmanuel Courcol („Ein Triumph“) erzählt in seiner warmherzigen Tragikomödie „Die leisen und die großen Töne“ die Geschichte eines Star-Dirigenten, der auf seinen bis dato unbekannten Bruder trifft. Das Schicksal des Musikers ist diesmal besonders tragisch – was Courcol aber nicht davon abhält, in seinem lange Zeit kitscharmen, dramaturgisch etwas eigenwilligen Film für viele Wohlfühlmomente zu sorgen.
Thibaut Desormeaux (Benjamin Lavernhe) ist ein Star am Klassikhimmel. Mit großer Leidenschaft und Expertise dirigiert er ein hochklassig besetztes Orchester, das auf der ganzen Welt die Konzertsäle füllt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihm: Thibaut erkrankt an Leukämie und benötigt eine lebensrettende Knochenmarkspende. Zu seiner Überraschung kommt seine Schwester Rose (Mathilde Courcol-Rozès) dafür nicht infrage, denn ein entsprechender Test ergibt, dass die beiden gar nicht verwandt sind. Vielmehr wurde Thibaut als Kleinkind von seiner leiblichen Mutter weggegeben und wuchs als Adoptivkind auf.
Auch sein älterer Bruder Jimmy (Pierre Lottin) landete als Kind bei einer Pflegemutter – bei Claudine (Clémence Massart-Weit). Nun arbeitet er im Norden Frankreichs in der Kantine einer Fabrik, die kurz vor der Schließung steht und unter der Federführung seiner engagierten Kollegin Sabrina (Sarah Suco) bestreikt wird. Ein bemerkenswertes musikalisches Talent bringt Jimmy ebenfalls mit: Er verfügt über ein absolutes Gehör, spielt aber lediglich in der mit mehr oder weniger talentierten Hobby-Musikern besetzten Dorfkapelle vor kleinem Publikum. Die benötigte Knochenmarkspende führt die beiden in grundverschiedenen sozialen Welten aufgewachsenen Brüder zusammen. Und weil die Dorfmusiker keinen Dirigenten mehr haben, soll Thibaut kurzfristig einspringen…
Passend zum deutschen Verleihtitel ist es tatsächlich ein Film der leisen Töne: Emmanuel Courcol verzichtet darauf, das Aufeinandertreffen zwischen dem gefeierten Star-Dirigenten und den (fast) gefeuerten Laienmusikern, die zu großen Teilen in derselben Fabrik angestellt sind wie Jimmy, zum albernen Profi-vs.-Amateur-Spektakel verkommen zu lassen. Die besten Gags generieren sich vielmehr aus kleinen Eitelkeiten innerhalb der Hobbytruppe, die sich auch nicht immer einig ist. Und wenn Thibaut im Proberaum seinen Taktstock schwingt und die Trompeter mal wieder die Halbtöne nicht treffen, lässt die angenehm reduzierte Mimik von Hauptdarsteller Benjamin Lavernhe („Birnenkuchen mit Lavendel“) erahnen, wie sehr Vollblutmusiker Thibaut bei dem schrägen Getröte das Herz bluten muss.
Bevor es zu diesem humorvollen, erst später für einen Moment in den Klamauk abdriftenden Aufeinandertreffen kommt, startet „Die leisen und die großen Töne“ aber zunächst als beklemmendes Leukämie-Drama: Thibaut, zu diesem Zeitpunkt noch in Diensten seines weltberühmten Orchesters, bricht bei einer Probe vor versammelter Mannschaft. Statt nun ein aufwühlendes Rettungsdrama durch den bis dato unbekannten Bruder zu entspinnen, entscheidet sich Courcol für einen ganz anderen Weg: Die offenbar erfolgreiche Knochenmarkspende, zu der Jimmy nach kurzem Zögern einwilligt, dient nur als Auslöser für die Zusammenführung der ungleichen Geschwister und wird überraschend knapp abgehandelt. Ein kurzer, gestenreich aufgeheiterter Moment im Krankenhaus – das war’s dann auch schon.
Seine schwere Erkrankung, mit der Thibaut durchaus selbstironisch umgeht, scheint ihn auch in der Folge kaum zu belasten, was der Glaubwürdigkeit seines schweren Loses eher nicht dienlich ist. Courcol, der das Drehbuch gemeinsam mit Khaled Amara und Irène Muscari geschrieben hat, lässt dafür das Weltbild der aus verschiedenen Milieus stammenden Brüder aufeinanderprallen. So beschäftigt er sich in seinem Film mit der spannenden Frage, ob musikalisches Talent wohl etwas ist, das in den Genen liegen kann. Thibaut ist angesichts von Jimmys Gehör jedenfalls davon überzeugt. Reizvoll gestalten sich auch die Reibereien mit der quirligen Sabrina, die in Jimmy mehr sieht als den Mann, der in der Kantine Kartoffelpüree ausgibt, und ihn immer wieder in die richtige Richtung zu schubsen versucht.
Erzählerisch schlägt „Die leisen und die großen Töne“ dabei durchaus eigenwillige Pfade ein: Nach der einleitenden Knochenmarkspende orientiert sich der Film lange an einer klassischen Musik- und Sportfilm-Dramaturgie, bei der die anstrengenden Proben recht schnörkellos auf einen abschließenden großen Contest vor gespanntem Publikum zusteuern. Ehe der Auftritt von Jimmys Hobbytruppe mit einer Performance des weltberühmten Triumphmarsches aus Verdis „Aida“ bei einem prestigeträchtigen regionalen Musikwettbewerb so richtig beginnt, ist er aber plötzlich schon wieder vorbei, weil sich die Bands in die Haare kriegen. Ein herrlich absurder, überraschender Moment, bei dem sich für einen Augenblick sogar Slapstick-Elemente Bahn brechen. Auch Jimmys From-Zero-To-Hero-Ambitionen erhalten einen herberen Dämpfer, als man es im Vorfeld vermuten sollte.
Auf der Zielgeraden ist es schließlich eine rührende Brudersequenz am Meer, die uns ohne Vorwarnung auf den Boden der Tatsachen zurückholt, als wir uns schon mitten im harmlosen Happy End wähnen. Mit dem zu erwartenden, abschließenden Wohlfühlmoment wartet Courcols dritter Langfilm dann aber doch noch auf – und spätestens bei diesem Crescendo wird das Ganze dann auch zu einer ziemlich kitschigen Angelegenheit. So unkonventionell der Weg bis dahin verläuft, so sehr ist das Finale im Konzertsaal ein Zugeständnis an ein Publikum, das in erster Linie unbeschwerte Unterhaltung sucht und den Kinosaal glücklich wieder verlassen möchte (ein ähnlicher finaler Schwenk war in diesem Jahr auch im italienischen Berlinale-Beitrag „Gloria!“ zu beobachten). Als einfühlsame Parabel auf den Wert der Versöhnung in einer sozial gespaltenen Gesellschaft ist der Film dennoch sehenswert.
Fazit: Dramaturgisch eigenwilliger, aber stets warmherziger und sympathischer Wohlfühlfilm, der zwischendurch mit unkonventionellen Manövern überrascht, ehe er am Ende schließlich lieber doch den üblichen Gesetzen des Genres folgt.
Wir haben „Die leisen und die großen Töne“ beim Festival des deutschen Films 2024 in Ludwigshafen gesehen, wo er als Gastbeitrag aus Frankreich gezeigt wurde.