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    Pavements
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Pavements

    An dieser Band ist nichts 08/15, also auch nicht die Doku!

    Von Björn Becher

    Alex Ross Perry („Her Smell“) eröffnet seine Kino-Doku über die Alternative-Rocker von Pavement mit einer humorvollen Übertreibung: Als sich 1999 die „wichtigste und einflussreichste Band der Welt“ auflöste, habe es niemanden interessiert. Aber als 2022 die „wichtigste und einflussreichste Band der Welt“ zurückkehrte, habe es plötzlich jeder bemerkt. Vor allem das „niemand“ ist schon sehr überspitzt: Obwohl zu den Reunion-Konterten tatsächlich sehr viel mehr Menschen kamen, waren damals immerhin noch 4.500 beim Abschlusskonzert. Aber das passt schon, schließlich macht Regisseur Perry gleich zu Beginn klar, dass sein Film Dinge schildern wird, die nicht zwangsläufig zusammenpassen – wie sollte es auch anders sein bei der widersprüchlichen Bandgeschichte, die er in „Pavements“ erzählt.

    Übertreibungen und Widersprüche sind dabei nicht nur der richtige, sondern wahrscheinlich sogar der einzige Weg, um sich Pavement zu nähern. Schließlich geht es hier um eine Band, die in den 90er-Jahren Außenseiter-Alternative-Rock schuf, der selbst heute noch prägenden Einfluss hat, die aber gleichzeitig mit ihrer Slacker-Mentalität und Kommerz-Verweigerung nie das wirklich große Ding wurde. Ein Band, die sich 1999 auflöste, um dann 2020 dank eines TikTok-Trends mit der B-Seite „Harness Your Hopes“ einen der am meisten gestreamten Spotify-Titel (fast 100 Millionen Mal Aufrufe an einem Tag) zu haben. Eine Band, die zu ihrer aktiven Zeit Talk-Show-Auftritte bewusst vermasselte, die dann aber plötzlich in der großen Mansplaining-Sequenz von „Barbie“, dem erfolgreichsten Film 2023, ganz selbstverständlich neben dem Kino-Klassiker „Der Pate“ als Referenz genutzt wurde.

    Fünf Filme zum Preis von einem!

    „Pavements“ ist keine klassische Musik-Doku. Ross Perry blickt zwar auf die Geschichte der Band von ihrer Gründung 1989 bis zur Auflösung zehn Jahre später zurück und begleitet parallel Stephen Malkmus, Scott „Spiral Stairs“ Kannberg, Mark Ibold, Steve West und Bob Nastanovich in den wenigen Tagen, die ihnen im Proberaum für die Reunion-Tour zur Verfügung stehen. Doch neben diesen zwei klassischen Handlungssträngen erzählt er noch mehr. Denn wenn „die wichtigste Band der Welt“ zurückkehrt, dann natürlich mit einem richtigen Knall: Ein eigenes Museum soll her, ebenso ein Musical sowie ein stargespicktes Hollywood-Biopic im Stile von „Bohemian Rhapsody“. So ganz stimmt das alles natürlich nicht – und trotzdem nehmen auch diese drei Teile viel Raum ein.

    Immer wieder sehen wir in diesem exzessiven Fünferpack von einem Film neben Archiv- und Reunion-Material also auch die Bühnenproben, den Aufbau des Museums und vor allem die Vorbereitungen und den Dreh samt Premiere des (Fake-)Hollywoodfilms. „Stranger Things“-Star Joe Keery wird zum Beispiel dabei begleitet, wie er mit seiner Sprachtrainerin daran arbeitet, Frontmann Malkmus zu imitieren – und sogar dessen Zunge dafür fotografiert. Der unter anderem auch noch mit Nat Wolff, Fred Hechinger und Jason Schwartzmann hochkarätig besetzte Mockumentary-Teil über den Dreh eines angeblichen Biopic-Blockbusters nimmt immer wieder auf höchst amüsante Weise den Hollywood-Betrieb aufs Korn – vom zu tiefen Abtauchen ins Method-Acting bis zum „Bla, Bla, Bla“ in Behind-the-Scenes-Interviews.

    Alldayeveryday Productions
    Die echten Mitglieder von Pavement und ihre Darsteller in der (Fake-)Verfilmung ihres Lebens.

    Jetzt wird sicher der eine oder andere Musik-Fan denken: Was soll das? Ich will doch etwas über die Band erfahren, ein paar Fakten aus ihrem Leben bekommen und ihre Songs hören. Zugegeben, der Fake-Film-Teil ist deutlich zu ausufernd geraten, doch Perrys Meisterstück ist es, wie gut er es schafft, auch im Inszenierten wahrhaftige Momente zu finden und damit am Ende doch eine ganz Menge über die Band zu erzählen. So etwa auch, wenn es das Enthüllen der durchaus komplizierten Beziehungen innerhalb der Gruppe geht.

    Immer wieder rückt dabei natürlich der große Widerspruch ins Zentrum, dass sie eigentlich Geld mit ihrer Musik verdienen müssen, aber so viel Angst vor dem „Ausverkauf“ haben, dass sie sich dabei immer wieder selbst sabotieren. Bob Nastanovich erzählt in einem von vielen wunderschönen kleinen Momenten, wie er erst kürzlich wieder in seinen alten Job als Busfahrer zurückkehren wollte, um über die Runden zu kommen. Just als es mit der Arbeit auf dem Fahrersitz losgehen sollte, rief ihn Malkmus an: Wir machen eine Reunion-Tour!

    "Ich habe hier nur Fake erwartet..."

    Gerade in der Gestaltung der Fake-Welten ist „Pavements“ von einer herausragenden Liebe zum Detail geprägt. Aus der Idee, für den Mockumentary-Teil nicht nur einen Fake-Film zu drehen, sondern auch noch ein angebliches Musical und ein vermeintliches Museum auf die Beine zu stellen, wurde so über Umwege doch noch Realität: Das Bühnenspektakel, in dem Pavement-Hits plötzlich zu poppigen Musical-Nummern werden, hat man wirklich komplett entwickelt und für den Filmdreh dann auch an zwei Abenden mit Live-Publikum aufgeführt. Auch das Museum hat man wirklich für eine knappe Woche eröffnet. Das verblüffte sogar die Musiker. So steht eines der Bandmitglieder sichtlich ergriffen in dem Museum vor den zusammengetragenen Zeugnissen der Bandgeschichte und stellt fest: „Ich habe hier nur Fake erwartet, aber das ist ja so real!“

    Da so viel im Film steckt, greift Perry, der zwei Jahre zuvor für Malkmus bereits ein Musikvideo zum nach 25 Jahren plötzlich zum viralen Erfolg gewordenen „Harness Your Hopes“ drehte, immer wieder auf Splitscreens zurück. Da sehen wir zum Beispiel alte Archivaufnahmen und Musical-Proben Seite an Seite, wobei Ross wechselweise mal hier, mal dort den Ton laufen lässt. So laufen über weite Strecken zwei der eigentlich gleich fünf Filme nebeneinander. Das kann auch mal etwas überfordernd sein, aber ist wohl die einzige Möglichkeit, all das Material in die (nur) 128 Minuten zu packen. Die gegenübergestellten Bilder befruchten sich zudem auch immer wieder auf wunderbare Weise.

    Selbst die Songs werden über die verschiedenen Ebenen gesplittet

    Der ständige Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen sorgt allerdings auch dafür, dass man die großartigen Songs von Pavement nie in voller Länge hört. Stattdessen bleibt auch die musikalische Darbietung dem Konzept des Films treu. Da beginnt ein Stück zum Beispiel mal als alter, verrauschter Live-Auftritt aus den Anfangstagen der auf der Bühne mangels Proben oft unkoordinierten Musiker. Aber dann geht der Song mit Aufnahmen der Reunion-Vorbereitung weiter, wo sich Malkmus nach all den Jahren auch erst mal wieder an eine Textzeile erinnern muss. Und enden tut das Ganze mit Passagen aus der Musical-Variante, wo ein buntes Ensemble das Lied völlig anders interpretiert. Trotz des fragmentarischen Ansatzes verfehlt „Pavements“ seine Wirkung nicht – ganz im Gegenteil: Der Film weckt die Lust, die Musik von Pavement wiederzuentdecken. Ich jedenfalls habe mir direkt nach dem Kinobesuch die Kopfhörer ins Ohr gesteckt und meine alte Best-Of-Playlist hervorgekramt.

    Fazit: Wer in seinen Musik-Dokus Wikipedia-Fakten im Wechsel mit ungekürzten Songs haben will, wird mit „Pavements“ nicht glücklich werden. Doch für alle, die bereit sind, sich auf ein wildes, spielerisches Filmerlebnis einzulassen, das den anarchischen Geist von Pavement einfängt, hat Alex Ross Perry ein großes Vergnügen erschaffen – auch wenn ruhig ein wenig kürzer hätte sein dürfen. Und wer kann schon von sich behaupten, dass seine Musik-Doku ein Museum und ein Musical zum Leben erweckt hat? Nur mit dem Kino-Blockbuster ist es im wahren Leben nichts geworden – aber das kann ja noch kommen!

    Wir haben „Pavements“ auf dem Filmfest Venedig 2024 gesehen.

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