Garantiert kein Opfer von Cancel Culture
Von Björn BecherWenn heutzutage Propagandafilme entstehen, wird oft (vor-)schnell der Vergleich zu den Werken von Leni Riefenstahl gezogen. Aber in den meisten Fällen ist dieser völlig verfehlt, denn das Besondere und Unerreichte an „Hitlers Lieblingsregisseurin“ ist die Kunstfertigkeit ihres Schaffens. Nicht umsonst hat George Lucas sie bei der Bildsprache von „Star Wars“ zitiert. Selbst Quentin Tarantino schwärmt von ihren Arbeiten – und die legendäre Filmkritikerin Pauline Kael bezeichnete ihre beiden berühmtesten Propagandawerke „Triumph des Willens“ und „Olympia“ als „die zwei besten Filme aller Zeiten, die von einer Frau inszeniert wurden“. Die 2003 im Alter von 101 Jahren verstorbene Leni Riefenstahl würde es sicher auch freuen, dass ihr Zweiteiler über die Nazi-Spiele in Berlin 1936 heutzutage ganz selbstverständlich und ohne kritische Einordnung neben all den anderen Olympia-Dokumentationen einer Streaming-Retrospektive des Criterion Channel steht.
Man könnte nun eine Debatte beginnen, ob man die Kunst nicht ohnehin vom Künstler bzw. in diesem Fall der Künstlerin trennen muss. Doch darauf lässt sich der preisgekrönte Dokumentarfilmer Andres Veiel („Black Box BRD“) in „Riefenstahl“ gar nicht erst ein. Stattdessen geht es um die Argumentation, welche die Regisseurin selbst bis zum Ende ihres Lebens vorbrachte: Sie sah sich selbst als Opfer, als eine unbedarfte junge Filmschaffende, die nur filmte, was man ihr sagte, aber nichts von den Gräueltaten der Nazis ahnte. Sogar ein direktes Opfer der Nazis sei sie, schließlich wollte Propagandaminister Joseph Goebbels sie angeblich zweimal vergewaltigen. Und nach dem Krieg machte die Presse mit ihren Lügen Jagd auf sie. Heute würde sie sich selbst wohl als Opfer von Cancel Culture bezeichnen. Veiel zeichnet in seinem sehenswerten, wenn auch etwas ausuferndem Film nach, wie sehr sie zeitlebens um genau dieses Narrativ kämpfe – und wie grundlegend falsch es im selben Moment war und bleibt.
Dafür greift der Filmemacher ausschließlich auf Archivmaterial und einen gelegentlichen Off-Erzähler zurück. Veiel nutzt dabei einerseits bekanntes Material wie eine TV-Talk-Show aus den 1970er-Jahren: Riefenstahl wird darin mit einer gleichaltrigen Hamburger Arbeiterin konfrontiert, die ihre Erzählung, von nichts gewusst zu haben, als Unsinn entlarvt. Den bekannten Beitrag bettet Veiel dann allerdings noch in einen breiteren Kontext ein, was ihm vor allem deshalb möglich war, weil er Zugang zu Riefenstahls unglaublich umfangreichem Privatarchiv bekam. Die Filmemacherin hat nämlich nicht nur auch privat viel gedreht, sondern dazu noch unzählige Schriftstücke und Audioaufnahmen gesammelt. Veiels Erkenntnisse lassen sich dabei vor allem auf drei Bereiche herunterbrechen:
Die Aufnahmen der bereits angesprochenen Talkshow ergänzt Veil um von Riefenstahl aufgezeichnete Anrufen. Ganze Kassetten voller Zuspruch hat sie gesammelt. Es sind lauter Leute, die es skandalös finden, wie im TV mit ihr umgegangen wurde. Der zweite Gast wird als pöbelnde Oma beschimpft, der Moderator wird heruntergemacht und angekündigt, sich beim Sender zu beschweren. Veiel zeigt schmerzhaft nachvollziehbar auf, wie erfolgreich Riefenstahls Opfer-Stilisierung war – und wie viele, womöglich auch aus ganz eigenen Motiven, unbedingt glauben wollten, dass man halt nichts von KZs und Massenmord ahnen konnte.
Die größte Stärke des Films ist hier, wie er dem Publikum ermöglicht, immer wieder die Brücke in die Gegenwart zu schlagen: Schließlich setzt bei manchen Leuten ein vorschneller Verteidigungsreflex ein, wenn mal wieder ein Promi Opfer einer (vermeintlichen) Cancel Culture wird. Im Verlauf des Films werden die Rechtfertigungen und Zusprüche allerdings zu zahlreich und verlieren so etwas von ihrer Kraft. Eine der stärksten, weil unglaublichsten Aussagen hebt sich Veiel aber für das Ende auf: Man könne die Wahrheit nicht mehr sagen, denn da werde man gleich als Neonazi abgestempelt, gibt Riefenstahl da in einem nie für die Öffentlichkeit bestimmten Gespräch zu Protokoll.
Diese Szene zeigt auch, wie die Regisseurin, Schauspielerin und Fotografin immer darum bemüht war, ihr Bild in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Veiels Dokumentarfilm endet mit Hinter-den-Kulissen-Aufnahmen von einem Interview, das Riefenstahl gen Ende ihres Lebens gegeben hat. Umfangreich dirigiert sie da nötige Veränderung der Kameraaufnahmen und wahrscheinlich würde sie am liebsten sogar selbst die für die Beleuchtung verantwortliche Sonne an einen anderen Platz schieben. Stolz präsentiert sie an andere Stelle ihre riesigen Schränke voller Gerichtsakten aus den vielen Verleumdungsprozessen, die sie geführt hat.
Veiel greift auch die bisher bekannteste Riefenstahl-Dokumentation auf. Über drei Stunden geht Ray Müllers „Die Macht der Bilder“, international auch bekannt als „The Wonderful Horrible Life Of Leni Riefenstahl“. Der Film wurde vor allem außerhalb Deutschlands gefeiert und sogar mit einem Emmy prämiert. Was dabei vielleicht nicht allen klar war: Der Film wurde von Riefenstahl selbst in Auftrag gegeben. Wie sehr sie dabei die Kontrolle behielt, zeigt Veiel anhand von Szenen, die es nicht in den finalen Film schafften. Da steigert sich die damals schon kurz vor ihrem 90. Geburtstag stehende Riefenstahl etwa in einen gewaltigen Wutausbruch, als ihr die – ihrer Meinung nach – falschen Fragen über die Nazi-Zeit gestellt werden.
Es ist aber auch einer von mehreren Momenten, wo Veiels fast zweistündiger Dokumentarfilm etwas ausufert. Immer wieder zerfransen die klaren Aussagen, weil noch eine Archivszene, noch ein Gedanke mehr kommt. Wobei sich manch deplatziert anmutender Diskurs dann doch als lohnenswert herausstellt: Wie etwa der thematische Schwenk zu ihrem späteren Schaffen als Fotografin in Afrika. Es ist einfach unglaublich skurril, wie sie die armen Eingeborenen herumscheucht oder mit Zigaretten besticht. Und diese Aufnahmen werden geschickt montiert mit ihren Aussagen, wie sehr sie in Afrika doch geliebt wird. Schließlich gipfelt diese Flucht an einen Ort, wo niemand über die Hitler und die Nazis reden will, in völlig absurden Fotos vom angeblichen Leben fernab der Zivilisation. Dort steht dann die große Persil-Packung am Waschtisch und die Kinder trinken Kaba – schließlich müssen die Produkte der Sponsoren ihrer Reise abgebildet werden.
Der vielleicht wichtigste, aber auch schwächste Teil von „Riefenstahl“ liegt in der umfangreichen Detektivarbeit, die Veiel geleistet hat. In Riefenstahls Hinterlassenschaft hat er genug gefunden, um aufzuzeigen, dass das von ihr selbst gezeichnete Bild, nichts gewusst zu haben, eine Lüge ist. Eindrucksvoll wird so vermittelt, dass sie wohl selbst Zeugin der Erschießung von mehreren Juden in Polen geworden war. Es wird sogar die These aufgestellt, dass sie an der Ermordung eine Mitschuld trägt, weil die Strafarbeiter im Bildhintergrund bei Filmaufnahmen störten.
Ihre Behauptung, von der Existenz der Konzentrationslager erst nach dem Krieg erfahren zu haben, ist derweil auch ohne weitere Indizien schon unglaubwürdig. Und dass „Triumph des Willens“ ein Film über Frieden sei, der ja so gar nichts zur Rassenideologie der Nazis enthalte, glaubt ja wohl eh keiner ernsthaft, der sich den Film angesehen hat (wobei das auch die vielen von Veiel eingebauten Ausschnitte noch einmal unterstreichen).
Es ist wichtig, all diese Dinge zu widerlegen – gerade in der heutigen Zeit und dem heutigen Diskurs, wo antisemitische und rassistische Gedanken wieder gesellschaftsfähiger werden (wie übrigens auch in einem der Zuschauertelefonate prophezeit wird, in dem sich Riefenstahl und ein „Fan“ darüber einig sind, dass man schon in ein bis zwei Generationen erkennen werde, dass die Ideologie von damals doch gar nicht so schlecht war). Allerdings sind die zahlreichen Widerlegungen quer über den Film verteilt und gehen auch mal zwischen anderen Punkten verloren. Es ist logisch, dass Veiel keinen reinen Fakten-Check machen wollte, doch so besteht auch die kleine Gefahr, dass diesen Klarstellungen die Präsenz fehlt – gerade zwischen den weiterhin wirkungsvollen Ausschnitten der gestählten Sportler-Körper aus „Olympia“.
Fazit: Andres Veiel hat mit „Riefenstahl“ einen wichtigen und sehenswerten Dokumentarfilm gedreht, der das umfangreiche Archiv der legendären Propaganda-Regisseurin der Nazis nutzt, um das von ihr selbst geschaffene Opfer-Bild geradezurücken. Mehr Fokus – vor allem auf die Kernaussagen – hätte „Riefenstahl“ aber nicht geschadet.
Wir haben „Riefenstahl“ im Rahmen des Filmfest Venedig 2024 gesehen.