Der wohl schönste Fantasy-Film der Saison!
Von Lars-Christian DanielsEine Geschichte über ein Kind, das allein in eine Fantasiewelt eintaucht und dort gefährliche Abenteuer bewältigen muss? Na klar, da werden viele von uns gleich an den (auch) von Tim Burton verfilmten Klassiker „Alice im Wunderland“, Guillermo del Toros brillantes Horrormärchen „Pans Labyrinth“ oder Wolfgang Petersens weichgespülte Literaturverfilmung „Die unendliche Geschichte“ denken. Und tatsächlich enthält „Moon Garden“, der schon mehr als zwei Dutzend Festivalpreise abräumte, zahlreiche Handlungs- und Stilelemente der genannten Filmemacher.
Aber selbst wenn uns manches bekannt vorkommen mag, hat Regisseur Ryan Stevens Harris, der auch das Drehbuch zu seinem stimmungsvollen Fantasy-Horror-Drama schrieb, keineswegs nur einen müden Aufguss prominenter Genrevorbilder auf 35mm-Filmmaterial gedreht. Vielmehr setzt der US-Amerikaner in seinem audiovisuell herausragenden zweiten Langfilm handwerklich einige Duftmarken und macht aus dem limitierten Budget deutlich mehr als bei seinem missglückten Debütfilm „Virus X“. Ein bildgewaltiger und mitreißender Indie-Geheimtipp!
Die fünfjährige Protagonistin von „Moon Garden“ wird von der Tochter des Regisseurs verkörpert.
Ehe Harris die von seiner eigenen Tochter gespielte Protagonistin für eineinhalb Stunden in eine dystopisch-industrielle Fantasiewelt stürzt, beginnt „Moon Garden“ als aufwühlendes Familiendrama: Die fünfjährige Emma (Haven Lee Harris) wird nachts wach, weil ihre schon länger nicht mehr glücklich verheiratete Mutter Sara (Augie Duke) und ihr vielbeschäftigter Vater Alex (Brionne Davis) sich im Wohnzimmer streiten. Emma kann das nicht verstehen, weil sie beide so lieb hat – oder ist sie womöglich gar selbst schuld an diesem Streit?
Als das wissbegierige Mädchen dazu stößt und zurückgewiesen wird, rennt es in seiner Enttäuschung zurück ins Kinderzimmer, gerät dabei aber ins Stolpern und fällt die Treppe hinunter. Als die Sanitäter eintreffen, ist Emma zur Sorge ihrer Eltern ins Koma gefallen – und befindet sich plötzlich in einer gefährlichen Traumwelt wieder. Dort hat es eine todbringende Horrorgestalt auf sie abgesehen. Auf ihrer Suche nach dem Ausweg und ihrem Bewusstsein muss sie vertrackte Gefahrensituationen meistern. Dabei durchlebt sie Geschichten, die ihr Vater ihr vorgelesen hat, und Lieder, die ihre Mutter für sie gesungen hat…
Beim Arrangement seines fantastisch-finsteren Genremixes setzt Ryan Stevens Harris konsequent auf handgemachte Effekte. Sein über mehrere Jahre verwirklichtes Herzensprojekt kommt komplett ohne CGI aus: Grusel und Thrill generiert „Moon Garden“ stattdessen aus morbider Stop-Motion, wirkungsvollen Licht-Schatten-Spielen im „Nosferatu“-Stil oder knackigen Jump Scares. Wenngleich nicht jeder Erschrecker aus dem Nichts kommt, gibt es Fantasy- und Horrorfilme dieser Bauart heutzutage nur noch selten auf der großen Leinwand zu sehen. Kompliment!
„Moon Garden“ verwendet dabei Elemente der Heldenreisen-Dramaturgie, wie wir sie in klassischer Form aus „Der Zauberer von Oz“, der „Star Wars“-Reihe oder der „Herr der Ringe“-Trilogie kennen. So begegnet die unschuldige Heldin, die auf ein gefährliches Abenteuer in einer fremden Welt geschickt wird, auf ihrer tapferen Reise den wohlgesonnenen Gefährten: Ein Klavierspieler (Phillip E. Walker) mit deformiertem Gesicht dient Emma einleitend als Mentor und gibt ihr ein wichtiges Transistorradio mit. Ein geheimnisvoller Bräutigam (Timothy Lee DePriest) ermöglicht ihr neue Einblicke, und eine ungewöhnlich alte Prinzessin (Maria Olsen) hadert noch immer mit einer folgenreichen Entscheidung aus früheren Tagen.
Mit seinen Licht-Schatten-Spielereien erinnert „Moon Garden“ visuell unter anderem an den deutschen Kino-Überklassiker „Nosferatu“.
Gleichzeitig wird die Handlung in der düsteren Traumwelt unter dem titelgebenden, überdimensionalen Mond motivisch mit der realen Welt ihrer Kindheit verwoben: Die klappernden Zähne des furchterregenden Mantelmonsters (Morgana Ignis) etwa werden schon vor Emmas tragischem Sturz angedeutet, als sie eine Halloween-Requisite in ihr Figurenspiel auf der Treppe einbaut. Auch ihr Lieblingskuscheltier, ein Rhinozeros, begegnet ihr bei ihrer alptraumhaften Koma-Odyssee in anderer Größe wieder. In Rückblenden erleben wir Emma zudem bei lehrreichen Lektionen ihrer Eltern: Ein Schwimmtraining mit Mama am See oder das Klettern mit Papas Hilfe am Baum helfen ihr über brenzlige Situationen hinweg.
Hier hat „Moon Garden“ viel von einer Nahtoderfahrung, bei der Emmas kurzes Leben vor ihren eigenen Augen vorbeizieht: Die auch mit Elementen aus „ES“, „Ring“ oder Dario-Argento-Filmen gespickte Geschichte wird nicht nur durch ihre Flucht vor dem an klassische Creature-Horrorfilme angelehnten Monsterwesen, sondern auch von ihrem akuten Überlebenskampf im Krankenhaus vorangetrieben. Betont dramatisch ist dieser Spagat zwischen den Welten dann, wenn Emma aus der Dystopie durch eine Jalousie selbst auf ihr eigenes Ich blickt oder wir dank verrauschter Meldungen im Transistorradio an Funksprüchen der Sanitäter oder beruhigenden Worten ihrer liebevollen Mutter teilhaben dürfen.
Dass das stellenweise sehr rührende, aber nie rührselige Fantasy-Drama vom Anfang bis zum Finale mitreißt, liegt neben dem stimmungsvollen Soundtrack (zu dem auch der von Mariah Carey gecoverte Liebeskummersong „Without You“ zählt) auch an der überzeugenden Hauptdarstellerin: Die junge Haven Lee Harris meistert die facettenreiche Hauptrolle des von furchtbarer Angst, naiver Neugier und ungestillter Sehnsucht zerrissenen Mädchens mit Bravour und changiert das in unbekümmertem Spiel. Ein toller Auftritt innerhalb eines mit weitgehend unbekannten Gesichtern besetzten Casts, der ansonsten meist hinter den eindrucksvollen Schauwerten der finsteren Fabel zurücksteht.
Fazit: Handwerklich herausragendes und schaurig-schönes Horrormärchen, das für Jungschauspielerin Haven Lee Harris ein Empfehlungsschreiben für weitere Kinoproduktionen sein dürfte.
Wir haben „Moon Garden“ im Rahmen des Genre-Filmfestivals „Weird Weekender“ gesehen, das im Oktober 2023 zum ersten Mal in Stuttgart stattfand.