Der Film hinter dem Skandal
Von Christoph PetersenDas österreichische Arthouse-Enfant-terrible Ulrich Seidl eckt auch deshalb so sehr mit seinen Filmen an, weil er seine Protagonist*innen nicht unbedingt zu mögen scheint. Stattdessen legt er regelmäßig ein gewisse Gnadenlosigkeit an den Tag, wenn er etwa in seiner Paradies-Trilogie eine Teenagerin in einem Diät-Camp („Paradies: Hoffnung“), eine Sextouristin in Kenia („Paradies: Liebe“) und eine selbstkasteiende Hardcore-Katholikin („Paradies: Glaube“) „vorführt“. Das ist dann oft genauso entlarvend cringe wie all das Abgründige vom S/M-Studio bis zum Nazi-Fetisch, das er in der Kino-Doku „Im Keller“ aus den Untergeschossen der alpenrepublikanischen Weißer-Gartenzaun-Mittelschicht an die Oberfläche zerrt.
Nun hat Seidl einen Film über zwei österreichische Brüder gedreht, die jeweils auf ihre Art ihr Glück im Ausland zu finden versuchen (dabei aber wohl eher vor etwas fliehen, als zu etwas hinzustreben). Am Ende kam dabei allerdings so viel Material zusammen, dass der Regisseur entschied, daraus zwei Filme statt nur einem zu machen: „Rimini“ über den abgehalfterten Schlagerbarden Ritchie Bravo (Michael Thomas), der sich in der italienischen Tourismushochburg nur noch über Wasser halten kann, indem er mit seinen mitgealterten weiblichen Fans für Geld in die Kiste steigt, feierte seine Weltpremiere im Wettbewerb der Berlinale 2022. In unserer 3,5-Sterne-Kritik bescheinigen wir Seidl dabei eine gewisse Altersmilde speziell im Umgang mit seinem glücklosen Protagonisten (was ja gar nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss).
-> Die FILMSTARTS-Kritik zu "Rimini"
Im zweiten Teil „Sparta“, dessen geplante Weltpremiere beim Filmfest in Toronto kurzfristig abgesagt wurde, nachdem in einem Spiegel-Artikel (in der englischen Fassung auch ohne Abo verfügbar) Vorwürfe gegen den Regisseur und seine Crew wegen der Drehbedingungen speziell für die Kinderdarsteller in Rumänien erhoben wurden, ist Seidls Blick nun – je nach Wahrnehmung – sogar noch empathischer/wertfreier. Und genau darin, dass er seinen Protagonisten diesmal nicht mit dem ihm üblichen Biss bloßstellt, liegt hier natürlich die eigentliche Provokation – schließlich ist Ritchies Bruder Ewald ein Mann, der sich immerzu mit seinen pädophilen Neigungen auseinandersetzen muss. Wobei das Provozieren in „Sparta“ keinesfalls ein Selbstzweck bleibt – stattdessen zwingt einen der Film dazu, sich beim Rollen des Abspanns und darüber hinaus einigen ungemütlichen Fragen zu stellen.
Sparta wird für Ewald (Georg Friedrich) und die Jungen zum brüchigen Paradies, das sowohl von Innen durch Ewalds pädophile Neigungen als auch durch die trostlose Welt dort draußen bedroht wird.
Ewald (Georg Friedrich) arbeitet als Ingenieur in einem Kraftwerk in Rumänien. Während seine Partnerin (Florentina Elena Pop) nach Jahren des Zusammenlebens langsam darauf drängt, vielleicht mal zu heiraten, fällt es Ewald hingegen zunehmend schwerer, überhaupt noch einen hochzukriegen. Wirklich gelöst wirkt der sonst so in sich gekehrte Mann nur, wenn er mit Kindern herumtobt – etwa mit den Neffen seiner Freundin oder auch einfach nur irgendwelchen fremden Jungen, die auf einem Feld eine Schneeballschlacht veranstalten, bei der der zufällig vorbeifahrende Ewald kurzerhand mitmischt. Nachdem er seinen dementen Vater (Hans-Michael Rehberg) im österreichischen Altersheim besucht hat, kehrt er nicht mehr in sein altes Leben zurück – sondern mietet stattdessen irgendwo in Rumänien eine verfallene kleine Schule, um dort Selbstverteidigungskurse für die Jungen des Dorfes anzubieten…
Nach und nach baut Ewald die Schule mit Hilfe seiner Schüler zu einem Fort aus, das er auf den Namen „Sparta“ tauft. Es ist eine Abschottung vor dem, was da draußen wartet, also für Ewald die Auseinandersetzung mit seinen Neigungen und für die Kinder der triste Dorfalltag samt oft alkoholkranker und gewalttätiger Eltern. Ewald lässt seine Schüler als römische Götterarmee in weißen Unterhosen mit Gummirüstungen aufmarschieren, als würde er einer Szene aus einem Film von Claire Denis („Der Fremdenlegionär“) oder Derek Jarman („Sebastiane“) nachstellen. Noch mehr als zur Verteidigung der 300 Spartaner gegen die persische Übermacht liegt jedoch eine Verbindung zum Rattenfänger von Hameln nahe: Wie in der deutschen Sage verschwimmen nämlich auch hier die moralischen Grenzen, wenn die Eltern schließlich mit ihren metaphorischen Mistgabeln des Fort stürmen und den Verführer ihrer Kinder aus der Stadt jagen.
Ewald ist sich der Verwerflichkeit seiner Neigungen bewusst – und er gibt ihnen (bisher) auch nicht so sehr nach, dass eine strafrechtliche Grenze überschritten würde (es geht deshalb bei den Spiegel-Vorwürfen auch explizit nicht um Drehs mit pädophilen Inhalten, sondern in der vielbeschriebenen Couch-Szene etwa um einen Moment, in dem ein Junge von seinem alkoholkranken Vater zusammengestaucht wird). Das heißt aber nicht, dass es nicht sehr ungemütlich werden kann, sich „Sparta“ anzusehen – etwa wenn Ewald am Abend in den tagsüber gemachten Fotos ganz nah an den kindlichen Körpern der Jungen entlangzoomt. Und trotzdem wagt sich Seidl an Ambivalenzen: So wirkt es bei der Stürmung des Forts nie so, als ginge es den Eltern tatsächlich um das Wohl ihrer Kinder – sondern vor allem darum, dass Ewald mit seinem Kümmern und seiner Fürsorge das (Selbst-)Bild der Erwachsenen, den allgemeinen Umgang miteinander und damit den Status Quo im Dorf in Frage gestellt hat.
So wird am Ende vermutlich jeder ganz individuell auf „Sparta“ reagieren – und dass Seidl diese Möglichkeit überhaupt zulässt, ist bei einem Film mit diesem Sujet, wo ansonsten schon aus Selbstschutz oft eine klare Positionierung an erster Stelle steht, alles andere als die Regel (und nein, damit ist nicht gemeint, dass hier pädophile Taten in irgendeiner Form relativiert würden). Dabei profitiert der Film mit Sicherheit von der Zweiteilung des Projekts. Der komplexe Protagonist und die Performance von Georg Friedrich („Große Freiheit“) haben die daraus resultierende Konzentration definitiv verdient. Zugleich gibt es in „Sparta“ aber auch Szenen, die sich relativ deutlich auf vergleichbare Momente aus „Rimini“ beziehen und die in der direkten Gegenüberstellung wahrscheinlich noch mehr gezündet hätten (zumal Georg Friedrich in „Rimini“ zwar eine größere Nebenrolle spielt, andersherum Ritchie-Bravo-Darsteller Michael Thomas nun in „Sparta“ aber überhaupt nicht auftaucht). Ähnliches gilt für die Begegnungen von Ewald mit seinem dementen (Nazi-)Vater – da wird doch einiges aus dem Vorgänger vorausgesetzt, während die spürbar zusammengekürzten Österreich-Abstecher in „Sparta“ selbst nicht so viel zum Film beitragen.
Fazit: Zu den Drehbedingungs-Anschuldigungen lässt sich von außen wenig sagen – sowohl die Recherchen für den Spiegel-Artikel als auch die ausführlichen Erwiderungen von Ulrich Seidl scheinen in sich stimmig. Also konzentrieren wir uns auf den Film selbst – und der zählt mit zu den stärksten des „Hundstage“-Regisseurs, gerade weil er in gewisser Hinsicht so anders als bisherige Seidl-Werke, aber deshalb nicht weniger provokant, herausfordernd oder nachwirkend geraten ist.
Wir haben „Sparta“ beim Filmfest Hamburg 2022, wo Ulrich Seidl ursprünglich mit dem Douglas-Sirk-Preis ausgezeichnet werden sollte, bevor die Festivalveranstalter*innen den Preis wegen der Spiegel-Vorwürfe ausgesetzt haben, gesehen.